Auslese

Häufig endet das Sprechen und Schreiben über Bücher in Allgemeinplätzen. Das Besondere des Textes – seine Sprache – tritt dabei allzu oft in den Hintergrund. Mit den hier vorgestellten Passagen möchten wir die Texte selbst sprechen lassen und Ihnen die Gelegenheit geben, den ausgewählten Büchern so ganz unmittelbar ein erstes Mal zu begegnen.

Gijs Wilbrink: Tiere

Draußen hatte es angefangen zu schneien. Weiße Flocken verirrten sich durchs offene Fenster und taumelten wirr durch die Gegend, bevor sie als nasse Flecken auf dem Teppich endeten. Im Zimmer war es inzwischen so eisig, dass Isa genauso gut draußen im Schnee hätte warten können, bloß dass sie da Mütze und Handschuhe gehabt hätte.
Und wenn sie jetzt eh rausging, um auf Erva zu warten, wenn sie gleich demonstrativ die Tür hinter sich zuziehen, abschließen, das Zimmer von der schaulustigen Außenwelt abschirmen würde, dann könnte sie genauso gut vorher noch eine letzte Fluppe rauchen.
Und ja, wenn sie sich eh eine drehte, könnte sie genauso gut ein bisschen Gras mit reinmischen.
Und in dieser Überzeugung ging Isa zum Skelett rüber, holte ihr Marihuanatütchen hervor und stand, bevor sie richtig wusste, was los war, mitten im Zimmer und leckte am Blättchen eines Joints (das so trocken war, dass Isas Lippe daran hängen blieb und aufriss), und nachdem sie den ersten Zug genommen hatte, lachte sie über die Armseligkeit der letzten Stunde, lachte darüber, wie sie auf dem Sofa gesessen hatte, hin- und hergerissen zwischen Selbstmitleid und Selbsthass, während die Wolke in ihrem Hirn jetzt zum ersten Mal an diesem Abend ein klares Bild ergab, nämlich dass Isa mit ihren Entzugsversuchen einen Teil ihrer Identität verleugnen, eine gewisse Unsicherheit in den Griff bekommen wollte, darüber, wer sie in dieser neuen Umgebung war, sie wollte die tief sitzende Angst überwinden, entlarvt zu werden, als provinzielle Hochstaplerin aus einem Nest von Tiermördern, als Lügnerin, dabei offenbarten ihre Gründe, warum sie mit dem Kiffen aufhören wollte, genau diese Unsicherheit, denn eigentlich wollte sie nur aufhören, damit sie dazugehörte: zu Erva, zu Dex, zur ganzen Szene, zur Stadt, die nach vier Monaten immer noch neu für sie war, zu ihren Kommilitonen und Professoren und zu noch viel mehr Menschen, die sie jetzt nicht mal ansatzweise in spezifische Kategorien einteilen, nach gründlich durchdachten und neu überdachten Kriterien taxonomisch einordnen konnte, denn während sie dort stand mit ihrem brennenden Joint und ihrem fulminanten Durchbruch in Sachen Selbsterkenntnis, wurde ihr Versuch, diesen Gedankengang zu einem schlüssigen Ende zu führen, abrupt von einem schroffen Klopfen an der Tür unterbrochen.

Gijs Wilbrink (1984) ist Autor, Musiker und Podcaster. Er ist im Achterhoek aufgewachsen, der Region, die im östlichen Teil der niederländischen Provinz Gelderland und an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen liegt. Tiere stand auf der Shortlist für den Niederländischen Buchpreis.

Gijs Wilbrink: Tiere. Aus dem Niederländischen von Ruth Löbner. Ullstein Verlag, Berlin 2024. 24,99 €