Beliban zu Stolberg: Zweistromland
Seit ich die Nachrichten aus dem Osten verfolge, träume ich vom Tigris. Im Traum stehen seine Ufer voll, das Wasser ist gelb, fast braun, es trägt Land mit sich. Der Fluss umrauscht mich und reißt mich um. Das Wasser und der Sand und ich. Wir fließen über die Grenze bis nach Syrien, bis in den Irak. Der Tigris speit mich an einem neuen Ufer aus, wo ich mich keuchend von der Flussfahrt erhole. In meinen Träumen liege ich am Ufer und höre, wie das Wasser gegen das Land schwappt und wie es klingt, wenn ich meine Hand in die Strömung halte. Ich bin noch nie am Tigris gewesen. Auf den Videos taucht er manchmal auf, als Markierung in der Landschaft. Früher hat mein Vater vom Tigris erzählt. Nicht mir, aber meiner Mutter. Abends im Wohnzimmer, wenn sie ihr Schweigen brachen, sprachen sie mit unterdrückten Stimmen über den Fluss und die antike Stadt Hasankeyf, die am Tigris liegt. Als ich diese seltenen Gespräche belauschte, habe ich mir vorgestellt, die Staudämme des Tigris würden brechen. Das Wasser würde die Türkei und Europa überschwemmen und schließlich auch Deutschland, bis es unter unserer Tür hindurchlaufen würde.
Beliban zu Stolberg wurde 1993 in Hamburg geboren und wuchs in Husum auf. Sie hat eine deutsche Mutter und einen kurdischen Vater. Sie studierte Drehbuch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. 2018 wurde sie mit dem Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert, nahm 2019 an der Autorenwerkstatt Prosa des LCB teil und erhielt sowohl 2019 und 2022 ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Sarkia (Finnland). Zweistromland ist ihr Debütroman.
Beliban zu Stolberg: Zweistromland. Kanon Verlag, Berlin 2023. 23 €