Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum

Als ich wach wurde, sah ich ihn schlafen. Er war sehr hell, die Nacht noch dunkel. Diese Helligkeit wird mich blind machen. An seinen Haaren spielen goldene Tiere miteinander. Habe ich alle diese Schwärme von seinen Lippen gepflückt? Es pocht eine Stille in seinem Körper. Du bist so hell, ich bin so wach. Diese Ruhe im Bett, wie auf einem Feld. Nur mein schwindliges Herz fließt in der Nacht. Kann der kommende Morgen mein Herz wieder an seinen Platz bringen? Ich fasste mein Herz an, schlief nah an seiner Schulter ein, wurde wach, suchte nach seiner Schulter, er war gegangen. Der Raum, das Wasserglas auf dem Tisch, die Falten im Betttuch sagten: „Er war da, aber er ist gegangen.“ Sie machten mir Vorwürfe. „Wieso war dein Schlaf so tief“, sagten sie. „Aus welchem tiefen Schlaf bis du wieder erstanden“, sagten sie auch. Das Zimmer war wie gefrorene Erde. Da sagte ein Tier: „Ich sterbe.“ Er war wie ein großer Engel neben mir gegangen, gelegen, hatte mich mit Liebe übergossen, überhäuft – hab die Welt vergessen –, dann war er, wie ein seltener Stern im Himmel, verloren gegangen. Oder war er ein Traum?

Emine Sevgi Özdamar wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Mitte der siebziger Jahre ging sie nach Berlin und Paris und arbeitete mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Sie übernahm zahlreiche Filmrollen und schreibt seit 1982 Theaterstücke, Romane und Erzählungen. 2022 erhielt sie neben dem Georg-Büchner-Preis auch den Düsseldorfer Literaturpreis sowie den Schillerpreis. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin.

Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021/2023. 15 €