Tess Gunty: Der Kaninchenstall

Die Gäste sind abweisend und riechen gut, sie tragen experimentelle Athleisure Wear und fühlen sich sehr sexuell. Außer Moses, der am liebsten den Reißverschluss seiner Haut öffnen will, um sie abzustreifen. Er spürt wieder die Fasern, sie piken und beißen wie Zecken. Er hat eine Krankheit. Er will nicht darüber reden.
„Was?“, fragt er die schwangere Frau und fühlt sich jetzt schon klaustrophobisch in dem Gespräch.
„Sind Sie Psychologe“, wiederholt sie.
„Nein.“
„Haben Sie Psychologie studiert.“
„Nein.“
„Psychiatrie.“
„Nein.“
„Psychoanalyse.“
„Nein.“
„Medizin.“
„Nein.“
„Psychotherapie.“
„Nein.“
„Soziologie.“
„Nein.“
„Anthropologie.“
„Nein.“
„Critical Race Theory.“
„Nein.“
„Queer Theory.“
„Nein.“
„Indigenous Studies.“
„Nein.“
„Women’s Studies.“
Er holt tief Luft. „Nein.“
„Was qualifiziert Sie dann, einen Mental-Health-Blog zu schreiben.“
Sie ist attraktiv, aber ihr Blick ist stumpf, und ihre Affektarmut zerrt an Moses’ Nerven. Er fühlt sich aufdringlich weiß und männlich in ihrer Gegenwart und kann nicht erklären, warum. Sie ist auch weiß. Er kratzt sich mit beiden Händen am Hals, weil aus seinen Poren bunte Fasern sprießen, aber das Kratzen ist nicht genug. Er stellt sich vor, er könnte eine Gabel über seine Haut ziehen.
„Nun, ich berichte ausschließlich über meine persönliche geistige Gesundheit“, sagt er. „Also.“
Tatsächlich ist seine Absicht das Gegenteil, denn der Blog ist als Ratgeberkolumne für anonyme Hilfesuchende konzipiert, aber Moses zieht die symbolische Wahrheit der buchstäblichen Wahrheit vor.
„Was qualifiziert den Blog dann als Mental-Health-Blog“, erwidert die Frau staubtrocken.
Wurdest du von Robotern aufgezogen?, fragt er nicht. „Ich will mich einfach engagieren.“
„Ihr Blog klingt genauso ichbezogen und frei von sinnstiftendem Inhalt wie jeder andere Blog.“
„Tja.“ Er ist getroffen. Alles juckt. „Jeder ist Experte seiner selbst, also …“
„Expert·in.“
„Was?“
„Expert·in.“
„Ich meinte alle“, erklärt Moses.
„Ihre Sprache ist ein Code patriarchalischer Mikroaggressionen.“
Moses hasst sich.
„Reden Sie weiter“, verlangt sie.

Tess Gunty ist in South Bend, Indiana, geboren und aufgewachsen. Sie hat Kreatives Schreiben an der NYU studiert. Gunty lebt in Los Angeles. Der Kaninchenstall ist ihr erster Roman.

Tess Gunty: Der Kaninchenstall. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2023. 25 €