Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand
Der Sonntag in Neustadt. Dieser oder ein anderer, gleichviel, sie glichen sich alle. Erinnernd fühle ich wieder die bleierne Schwere in den Gliedern, Schlaf als Fluchtversuch, die Traurigkeit: war denn sonntags immer der Himmel grau, erstickten die Straßen im Nebel? Atemnot, als drückte dir eine Hand den Hals zu … Das Haus ist stiller als sonst, die Familienväter sind übers Wochenende nach Hause gefahren, die anderen schlafen sich aus, erst gegen zehn rauschen die Wasserspülungen, dudeln Radios Marschmusik, Opernarien, Goldener Pavillon. Ich trödele herum, das Bett ist nicht gemacht, der Aschenbecher voller Kippen, ich rauche und blättere in den eleganten Zeitschriften (Fotos auf Kunstdruckpapier, die Texte in Englisch, Französisch, Italienisch), der Alte Mann hat ein Kloster gebaut, weiß in den weißen Felsen am Mittelmeer, der Glockenturm wie eine Klippe gewachsen … Stahlprofilgitter, die stürzenden Linien, die unmenschliche Fassade eines Büro-Hochhauses … Chagall malt in der Pariser Oper … Bungalows, englischer Rasen, versenkbare Glaswände, eine Terrasse mit Kamin, orangerote Sonnensegel … Mode-Zeitschriften, Bauten, die den langbeinigen, flachbrüstigen, überschlanken Mannequins gleichen, in Kleider eingenäht, die keine normale Frau tragen kann. Die Haute Couture der Architektur.
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.
Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Aufbau Verlag, Berlin 2023 (Erstveröffentlichung: 1974). 15 €