Andreas Lehmann: Lebenszeichen

Eigentlich las er nie in den Apotheken- und Gesundheitszeitschriften, die Jana mitbrachte. Sie löste die Rätsel und das Sudoku, las hin und wieder einen Artikel. Ihn langweilten sie bestenfalls, meistens machten sie ihm Angst. Am Abend jedoch hatte er den Fehler gemacht, etwas über Tumorhunde zu lesen, auf das Jana ihn aufmerksam gemacht hatte. Die Tiere konnten riechen, wenn Krebsgeschwüre bei Menschen wucherten.

Nachts träumte er schlecht, und auf dem Weg zur Arbeit war er entsetzt, wie viele Hunde an ihm schnüffelten. Einer hörte nicht auf, sich für ihn zu interessieren; er sah an einer Ampel zu ihm auf und jaulte ihn an, als er losging.

Bei der Arbeit war er wortkarg.

„Was hast du?“, fragte Agnes und trat hinter ihn, „du bist so still heute.“

Er schloss seine Augen, beide Hände noch auf der Tastatur.

„Oh, du riechst aber gut.“

Agnes beugte sich vor, er spürte ihr Gesicht direkt neben seinem. Er hielt die Luft an, rührte sich nicht.

„Mmh“, machte sie, übertrieben genüsslich, „ein neuer Duft?“

Andreas Lehmann, geboren in Marburg, hat Buchwissenschaft, Amerikanistik und Komparatistik in Mainz studiert, arbeitet in einem Sach- und Fachbuchverlag und lebt in Leipzig. Er war zwei Mal Teilnehmer des Open Mike-Wettbewerbs der Literatur werkstatt Berlin, und er hat Werkstattstipendien der Jürgen-Ponto-Stiftung, der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin und der Romanwerkstatt im Brechtforum Berlin erhalten.

Andreas Lehmann: Lebenszeichen. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2023. 25 €