Andreas Lehmann: Schwarz auf Weiß

Die leere Welt vor dem Fenster gibt ihm heute plötzlich Kraft, Bestätigung. Sie ist nämlich keine, an der nur er nicht teilnimmt, keine, die ihm zeigt, wie reibungslos alles ohne ihn, nur ohne ihn, funktioniert. Was jetzt stillsteht, er spürt es, steht ein bisschen auch dank seiner Suspendierung still. Sobald er wieder ins Leben tritt, ins Sichtbare, wird eine Bremse sich lösen und das große Rad sich ächzend in Bewegung setzen. Bald, ganz bald schon wird es so weit sein.

Er schaut zwei Filme, liest ein bisschen, kocht etwas Aufwändiges; er weiß, das er es sich leisten kann. Als er am Küchentisch sitzt und die letzten Bissen genüsslich vertilgt, sieht er die Taube auf seinem Balkon landen. Er hält inne, legt das Besteck leise auf dem Teller ab. Die Taube hat kein Baumaterial im Schnabel, wirkt aber genauso zielstrebig wie vor einigen Tagen. Er steht auf, geht vorsichtig ans Fenster, sieht, wie der Vogel um das Nest herumhüpft, maßlos unelegant. Schon will er die Taube verscheuchen, will ihr beweisen, dass er wieder Herr ist im eigenen Haus, da sieht er das Ei. Das Nest ist bei weitem nicht so kunstvoll wie das einer Schwalbe oder auch einer Amsel, und selbst das Ei sieht schmutzig aus, wie die rustikale Version eines edlen Gedankens. Aber trotzdem strahlt es eine Zartheit aus, eine Formvollendung, die er einem so durchschnittlichen Tier nicht zugetraut hat. Er tritt vom Fenster zurück, da bemerkt ihn offenbar die Taube, breitet ihre Flügel aus und pickt mit dem Schnabel ein paar Mal in seine Richtung.

Er spürt die Feindseligkeit in den Bewegungen, ist aber zugleich gerührt. Er verlässt die Küche, ohne den Tisch abzuräumen, und bleibt für den Rest des Tages im Wohnzimmer. Was gefährdet ist, ist wertvoll; er sagt es sich vor wie ein Mantra, ein Gebet ohne Empfänger.

Als es längst dunkel ist, fragt er sich, wie spät es wohl ist, tippt auf 19 Uhr 45 und sieht auf die Uhr: Es ist exakt 19 Uhr 45. Ab jetzt, denkt er, ab jetzt, und muss den Satz nicht vollenden, um ihm aus vollen Herzen zuzustimmen. In Zukunft wird er sich den Anfang einer Geschichte immer als eigene Geschichte erzählen.

Andreas Lehmann, geboren in Marburg, hat Buchwissenschaft, Amerikanistik und Komparatistik in Mainz studiert, arbeitet in einem Sach- und Fachbuchverlag und lebt in Leipzig. Er war zwei Mal Teilnehmer des Open Mike-Wettbewerbs der Literaturwerkstatt Berlin, und er hat Werkstattstipendien der Jürgen-Ponto-Stiftung, der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin und der Romanwerkstatt im Literaturforum des Brechthauses Berlin erhalten. Zuletzt erschien von ihm der Roman Über Tage.

Andreas Lehmann: Schwarz auf Weiß. Karl Rauch Verlag. 20 €