Deniz Ohde: Streulicht

Dass ich nicht zur Elite gehören konnte, hatte auch damit zu tun, dass die Barmänner aus dem Gaststätten des Orts unsere Telefon-nummer kannten. »Er singt wieder?«, flüsterte meine Mutter nachts in den Hörer, bevor sie sich leise ihre Jacke überzog und ich hörte, wie sie den Schlüssel vom Brett nahm. Immer und immer wieder holte sie ihn ab, ging mit ihm die kurzen Wege von Conny’s Eck oder dem Schluckspecht nach Hause, hielt ihn am Arm, wenn er drohte auf die Fahrbahn zu wanken, sah peinlich berührt zu Boden, wenn einer ihnen entgegenkam. Es war eine Szene, die in jedem Jahrhundert hätte stattfinden können. Das einzige Zeichen, das auf die Gegenwart deutete, waren die blinkenden Spielautomaten in den Kneipen, die elektrischen Lichter, dass es ein Telefon gab, mit dem man meine Mutter verständigte, und dass ein Fernseher in der Ecke lief. Aber sie hätte genauso gut in einer staubigen Kneipe der Fünfzigerjahre stattfinden können, die man damals noch »Wirtschaft« nannte, wie es mein Großvater tat: »Warst wieder in der Wirschaft?«, fragte er meinen Vater freundschaftlich. Es war eine Szene, die schon hundertfach stattgefunden hatte, die auch an jedem anderen Ort hätte stattfinden können, in irgendeinem Bergdorf oder am Meer zwischen den Fischern und den Staubstraßen meiner Mutter. Es war eine so zeit- und ortlose Erfahrung, dass sie schon in das menschliche Erbgut eingeschrieben sein musste, dass meine Mutter genau wusste, was zu tun war, und meinen Vater zur Tür heineinschob, ihn auf das Sofa legte, ihm die Schuhe auszog, als wäre es ihr naturgegebener Platz.

Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie auch lebt. 2016 war sie Finalistin des 24. open mike und des 10. poet bewegt Literaturwettbewerbs, 2017 Stipendiatin des 21. Klagenfurter Literaturkurses. 2019 stand sie auf der Shortlist für den Wortmeldungen-Förderpreis. Für ihren Debütroman Streulicht wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2020 ausgezeichnet.

Deniz Ohde: Streulicht. Suhrkamp Verlag. Gebunden 22€ und als Taschenbuch 12€