Eduardo Halfon: Der polnische Boxer
Bald darauf erschien der Mann aus Utah. Harold Lewis. Professor für Politikwissenschaft an der Brigham Young University. Mormone, natürlich. Er war nach Durham gekommen, um an einem Kolloquium über Mark Twain teilzunehmen. Ich auch, sagte ich, und er sah mich erstaunt an. Offensichtlich wunderte er sich über meinen Aufzug, Jeans, Dreitagebart und eine Zigarette nach der anderen rauchend wie ein lateinamerikanischer Bilderbuchrevolutionär. Ja, erklärte ich, ich bin Universitätsprofessor, aber ich glaube, er glaubte mir nicht, oder vielleicht doch, und er wollte mich nur meine Geringschätzung spüren lassen. Er hatte etwas von einem Schafhirten, dieser Mister Lewis, auch wenn ich nicht weiß, was genau ich damit sagen will. Wir legten unser Gepäck in den Kofferraum, und ich zog noch ein letztes Mal an meiner Zigarette und ließ mich dann so hastig wie ein Kind, das in einen Freizeitpark stürmt, auf der Rückbank des luxuriösen Gefährts nieder. Der Fahrer sagte, wir sollten es uns gemütlich machen, bis zum Hotel dauere es eine Viertelstunde. Lewis fragte, woher ich sei, und zog bei meiner Antwort die Augenbrauen hoch, aus einem für mich unklaren Grund. Diese Gringos. Ich sah hinaus. Zu beiden Seiten der Autobahn erstreckten sich riesige Tannenwälder, und mit einem geradezu wohligen Gefpühl erinnerte ich mich an den Ausspruch eines drei oder vier Jahre alten Mädchens – beim Anblick der an ihrem Fenster vorbeiziehenden Bäume hatte sie gefragt: Warum laufen die Bäume eigentlich rückwärts? Ich lächelte. Es gibt harmlsoe Erinnerungen. Oder sie kommen einem wenigstens harmlos vor. Schrecklich, sehen Sie doch, sagte da Mister Lewis und zeigte auf ein überfahrenes Reh auf der Straße. Das ist nichts Besonderes, sagte der Fahrer, die liegen hier überall rum. Während wir, ein Guatemalteke und ein Mormone auf dem Weg zu einem Treffen von Mark-Twain-Spezialisten, in einer Luxuslimousine an Tierleichen vorbeirasten, überkam mich auf einmal das Gefühl, am falschen Ort zu sein. Manchmal vergesse ich einfach für kurze Zeit, wer ich bin.
Eduardo Halfon, 1971 in Guatemala-Stadt geboren, ist einer der wichtigsten Schriftsteller der jüngeren lateinamerikanischen Literatur. Ab 1981 wuchs er in den USA auf. Nach seiner Rückkehr nach Guatemala unterrichtete er als Professor für Literatur an der Universidad Francisco Marroquín. Halfons Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 2009 erhielt er für seinen Kurzroman La pirueta den Premio de Novela Corta José María Pereda, 2011 ein Guggenheim Fellowship für seine Arbeit an Der polnische Boxer und 2015 den Prix Roger-Caillois für Signor Hoffmann. Bei Hanser erschienen Der polnische Boxer (Roman, 2014), Wie mein Zuhause zu verschwinden begann (Hanser Box, 2015), Signor Hoffman (Roman, 2016) und Duell (Roman, 2019). Eduardo Halfon lebt in Paris.
Eduardo Halfon: Der polnische Boxer. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen und Luis Ruby. Hanser Verlag 2014. 18,90 €