Edvarts Virza: Straumēni
Straumēni ist ein sehr altes Gehöft, und das erkennt man an den großen Bäumen, die um seine Gebäude herum wachsen. Sie sind keine Überbleibsel eines früheren Waldes, die vor langen Zeiten jemand beim Roden als Beweis für seine Beharrlichkeit und seine Kraft für die kommenden Generationen hätte stehen lassen. Wälder sind hier nie gewachsen, und die Natur hat das Übermaß ihrer Kräfte in diesem ganzen Gebiet am Gras der Wiesen zeigen wollen. Die Wiesen lassen hier auf einer Breite von zwanzig Werst von Westen bis Osten ihre mit Straußgras bewachsenen Erhebungen wogen wie Wasser, dem der Herrgott bestimmt hat, an seiner Stelle zu bleiben und Wellen aufzuwerfen. Vielleicht haben an diesen Orten in längst vergangenen Zeiten vereinzelte Eichen ihre Zweige ausgebreitet, deren blauschwarze Stämme man hier und da aus der Erde gräbt. Die Bäume rund um das Gehöft von Straumēni sind angepflanzt worden, denn sie alle wachsen ordentlich – die einen an den Enden der Gebäude, die anderen bei den Türen und weitere auf dem Hof. Sie sind zu Ehren von Pērkons gepflanzt worden, damit seine Blitze nicht ins Hausdach einschlagen, wenn er an schwülen Sommertagen durch die Lüfte braust. Und tatsächlich: Wenn der Donnergott seinen Zorn nicht mehr zu bändigen vermochte, ist er immer in die Wipfel dieser Bäume gefahren. Deshalb hat die große Eiche auf dem Hof ein stumpfes Ende, denn eines Mittags hat Pērkons ihre Krone getroffen und auf dem ganzen Hof einen unangenehmen Schwefelgestank hinterlassen. Auch die alte Linde ist deshalb hohl, weil der Wolkenerschütterer einen tiefen Riss hineingeschlagen hat. Seitdem ist ihr Inneres immer löchriger geworden, und tagsüber hängen reihenweise Fledermäuse darin, um bei Anbruch der Dämmerung ihren Flug über den Hof anzutreten. So wuchsen dort diese Bäume, färbten sich im Frühjahr grün und im Herbst gelb und vereinten sich im Dienst an der Schönheit und an den Bedürfnissen des Lebens. Unten waren ihre Stämme ganz blank gescheuert, denn Menschen wie Tiere liebten es, sich immer wieder an sie zu lehnen. Die Leute von Straumēni sahen in ihnen gleichwertige Geschöpfe, und sie spendeten den Schatten, der über den Rasen wanderte und in dem Männer wie Frauen an Sonntagnachmittagen Platz nahmen und endlose Gespräche führten.
Edvarts Virza (1883–1940) wurde als ältestes von neun Bauernkindern unter dem Namen Jēkabs Eduards Liekna auf dem zemgalischen Land bei Iecava geboren. Nach einem höheren Schulabschluss begann er 1902 in Riga ein technisches Studium. Schon nach kurzer Zeit zog es ihn nach Moskau, wo er juristische Vorlesungen besuchte. Als 1905 die Russische Revolution ausbrach, kehrte er zurück nach Lettland. Während des Ersten Weltkriegs wurde seine Familie aus dem heimatlichen Zemgale vertrieben, Virza wurde zur Armee eingezogen. Ab 1918 arbeitete er für Zeitungen und Zeitschriften und setzte sich für die Unabhängigkeit Lettlands ein. 1920/21 leitete Virza das lettische Pressebüro in Paris, zurück in Lettland trat er dem Bauernverband, der lettischen Bauernpartei, bei und verantwortete bis zu seinem Tod den Literaturteil der Parteizeitung »Brīvā Zeme«.
Edvarts Virza: Straumēni. Aus dem Lettischen und mit einem Nachwort von Berthold Forssman. Guggolz Verlag. 25 €