Fabio Andina: Tage mit Felice

Wir erreichen die Gumpe. Sehen kann ich sie nur mit Mühe, aber ich erahne sie, ein schwarzer Fleck, der unablässig murmelt. Ich bin durchgeschwitzt von der Anstrengung, mit Felices Schritt mitzuhalten. Er hat eine ganz eigene Art der Fortbewegung, als würde eine innere Trommel den Rhythmus vorgeben. Streckenweise geht er gemächlich, die Hände auf dem Rücken verschränkt, plötzlich beschleunigt er zum Laufschritt, um dann wieder langsamer zu werden.
Aus dem Kiefernwald kommend, trafen wir plötzlich auf eine Mondlandschaft. Die frische Schneedecke reflektierte das zaghafte Licht des neuen Tages und erschien uns als ein bleigraues Bettlaken, das die gesamte Berglandschaft bedeckte.
Wie gestern bedeutet er mir, als Erster hineinzusteigen, aber ich winke ab. Zuerst muss ich mir Mut machen. Oder wieder zu Atem kommen. Also zieht er sich aus, hängt die Kleider an denselben Zweig und ist in null Komma nichts im Wasser. Es ist eine solche Stille hier oben. Eine weite und tiefe Stille. Ich hole Luft und tauche mit dem Geist in sie ein. Als er aufsteht, gehe ich mich unter der Tanne ausziehen. Auf dem Weg zurück, bereit hineinzusteigen, sehe ich seinen Schemen dort, aufrecht und reglos mitten im Becken. Eigentlich wäre noch Platz für mich, aber ich wage es nicht, einen Fuß hineinzusetzen. Das hier ist sein Moment. Ich stehe da und warte, bis ich an der Reihe bin, während die Flocken auf mich herabschneien. Und stelle blitzartig fest, dass ich noch nie nackt im Schnee war.

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er wieder im Tessin, im Malcantone. »Tage mit Felice « ist sein zweiter Roman und sein erstes Buch in deutscher Übersetzung. Es wurde mit dem Preis Terra Nova 2019 der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Premio Gambrinus 2019 ausgezeichnet.

Fabio Andina: Tage mit Felice. Aus dem Italienischen von Karin Diemerling. Rotpunktverlag 24€ und Piper Taschenbuch 12€