Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt

„Ich lese.“

„Und was liest du?“

„Alles.“

„Was soll das heißen, alles. Auch Straßenbahnfahrscheine, Etikette von Mineralwasserflaschen und die Verordnungen des Bürgermeisters zur Schneebeseitigung?“ Sie lachte.

„Ja, aber am liebsten Liebesgeschichten,“ sagte ich. Sie nahm das ernst und sagt, die finde sie nervtötend, denn um ihr zu gefallen, müssten sie schlecht ausgehen, und wenn sie schlecht ausgingen, gefielen sie ihr nicht. Ich hätte doch die Recherche gelesen? „Dazu fehlt mir die nötige Puste“, sagte ich und behauptete, Proust gehöre zu denen, die laut gelesen werden müssten. Der Gedanke amüsierte sie, und sie wollte wissen, mit welchen anderen Büchern man das auch tun sollte. Ich nannte aufs Geratewohl die Bibel, Moby Dick und Tausendundeine Nacht. Das schien mir eine ausreichend passionierte Auswahl zu sein.

„Aber du hast doch Vorlieben.“

„Ja“, sagte ich, „Henry James Joyce, Bob Dylan Thomas, Scotch Fitzgerald und gebrauchte Bücher ganz allgemein.“

„Wieso gebrauchte“, fragte sie, ohne auf meine schlauen Wortspiele einzugehen.

„Weil sie weniger kosten und dann auch, weil du, mit einer gewissen Fehlerquote, schon vorher wissen kannst, ob es sich lohnt, sie zu lesen.“

„Wie denn“, sagte sie und setzte sich auf die Brüstung. Also sagte ich ihr, dass ich zwischen den Seiten nach Brotresten suchte, nach Krümeln, nach Stückchen der Kruste, denn ein Buch, das man beim Essen lese, sei ohne Zweifel gut, oder ich suchte nach Fettflecken, nach Fingerabdrücken und nach geringfügigen Falten auf den Seiten. „Die Falten muss man auf dem Buchrücken suchen, auch ein Buch, das beim Lesen geknickt wird, ist gut. Bei einem festen Einband suche ich nach Flecken, Abschabungen, Kratzern, das sind alles sichere Indizien“, sagte ich.

„Und wenn der, der es vor dir gelesen hat, ein Idiot war?“

Gianfranco Calligarich, geboren 1947 in Asmara, Eritrea, stammt aus einer Triestiner Familie. Er wuchs in Mailand auf, bevor er nach Rom zog, wo er als Journalist und Drehbuchautor arbeitet. 1994 gründete er das Teatro XX Secolo. Die Originalausgabe von Der letzte Sommer in der Stadt erschien 1973. Der Roman wird derzeit in zwanzig Sprachen übersetzt.

Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Zsolnay, Wien 2022. 22 €