
Karl Alfred Loeser: Requiem
Und Tag für Tag ging das Leben weiter seinen Gang. Da waren viele in D. und im ganzen Reich, die sich immer noch nicht mit den unerbittlichen Tatsachen abzufinden vermochten. Als die ersten politischen Gegner gefangen und gefoltert wurden, als der Reichstag brannte, als man mit roher Gewalt die Bevölkerung zwang, die verhassten Fahnen zu hissen, als die Judenhatz begann und die Bücher auf den Scheiterhaufen brannten, wie viele hatten da gehofft, es würde etwas geschehen. Irgendetwas. Dass man vielleicht eingreifen und nicht untätig mit ansehen würde, wie Recht und Freiheit und Geist niedergeknüppelt wurden, oder sogar, dass die Natur selbst sich zur Wehr setzen würde gegen so viel Unnatur. Doch nichts geschah. So, wie das Herz Schlag auf Schlag folgen lässt, unermüdlich und unaufhaltsam, ob Freude oder Schmerz, so hatte sich Stunde an Stunde und Tag an Tag gefügt, und so würde weiter die Zeit im Gleichmaß verrinnen, bis … Ja, bis vielleicht doch einmal etwas geschähe.
Man ging also seinem Tagewerk nach in D., wie in allen anderen Städten, wie in allen Dörfern und Flecken. Da waren die Begeisterten, deren Begeisterung jeden Tag gezwungener und krampfhafter wurde, da waren die Unentwegten, die alles entschuldigten und bereit waren, für Deutschlands Größe Opfer und wieder Opfer zu bringen, da waren die Beamten und die direkten Nutznießer des Systems, deren Schar von Monat zu Monat geringer wurde und deren Stimmung und Kopfhaltung sich in gleicher Weise abwärts bewegten, und da waren schließlich die Gegner, deren Gegnerschaft täglich verbissener wurde, und die im Verborgenen agierten. Über allen schwebte ein unheimliches, eisiges Schweigen. Furcht und Misstrauen beherrschten die Gemüter und demoralisierten sie. War das noch dasselbe Land? Hatte es nach dem Krieg nicht ausgesehen, als begännen Witz und Fröhlichkeit, sich langsam auszubreiten und heimisch zu fühlen? Wohin das alles? Wohin die Zeiten, da man nach Herzenslust querulieren und sich über die Regierung lustig machen konnte? Heute kontrollierte man sogar seine Gedanken, und der Ernst, der furchtbare Ernst der Humorlosen, unterdrückte jede Fröhlichkeit. Es gab nur ein Ziel, jedermann spürte es von Tag zu Tag deutlicher, den Krieg, die Revanche. Doch diese gigantischen Vorbereitungen, die fast unglaublich erscheinende Umwandlung eines ganzen Reiches in eine einzige große Kaserne, die Pressehetze, die unaufhörliche Propaganda, schufen keine Begeisterung, eher empfand man Furcht vor dem kommenden Unheil, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sich zur Wehr zu setzen. Stumpfsinnig und gleichgültig nahm man jedes neue Gesetz, jede neue Verordnung hin und wartete auf die Katastrophe wie auf etwas Unabwendbares.
Karl Alfred Loeser, geboren am 5. Mai 1909 in Berlin, flüchtete mit 25 Jahren nach Amsterdam, wo sein älterer Bruder, Norbert Loeser – Komponist und Musikkritiker – bereits lebte. Dort lernte er seine Frau Helene kennen und emigrierte kurz darauf mit ihr nach São Paulo, Brasilien, wo Loeser bis zu seiner Pensionierung für eine niederländische Bank arbeitete. Seine Werke wurden nie publiziert.
Der von Peter Graf entdeckte, bislang unveröffentlichte Roman Requiem von Karl Alfred Loeser aus den 1930er-Jahren wirkt beinahe prophetisch. Denn geschrieben wurde er, bevor die Vernichtung der europäischen Juden ins Werk gesetzt wurde.
Karl Alfred Loeser: Requiem. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023 (entstanden in den 1930er-Jahren). 24 €