Katie Kitamura: Intimitäten
Ich konnte nicht erkennen, was der Ex-Präsident empfand, ob er den etwas abstrakten und fraglos kontraintuitiven Rat des Anwalts angenommen oder auch nur begriffen hatte – der Gerichtshof erschien auf den ersten und durchaus auch zweiten Blick als genau der richtige Ort für die große überzeugende Erzählung. Der Ex-Präsident zeigte jedoch keinerlei Reaktion, und nach einem Moment sprach der Anwalt weiter. Es folgte eine wiederum äußerst fachspezifische Diskussion, deren Inhalt schwer verständlich war, um das Mindeste zu sagen, und mit fortschreitender Zeit war immer weniger klar, worum es überhaupt ging.
Das lag nicht zuletzt daran, dass das Dolmetschen massiv desorientierend wirken kann, man kann sich dermaßen in den Einzelheiten verlieren, in dem Bemühen, die einzelnen Wörter, die zu dolmetschen sind, möglichst getreu wiederzugeben, dass man den eigentlichen Sinn der Sätze nicht mehr recht erfasst: Man weiß im wahrsten Sinne des Wortes nicht, was man sagt. Die Sprache verliert ihre Bedeuntung. Genau das passierte mir jetzt, in diesem Konferenzraum. Ich war vollauf damit beschäftigt, den Juristenjargon zu entschlüsseln, in den der Inhalt der Diskussion verpackt war, so undurchdringlich wie undurchlässig, schien es. Und doch – wie ich merkte, als ich auf den vor mir liegenden, mit Kurzschrift beschriebenen Block starrte – sickerte etwas durch. Ich sah die Wörter, die ich jetzt seit fast zwanzig Minuten aussprach: Grenzfall, Massengrab, bewaffnetet Jugendliche.
Katie Kitamura, 1979 in Kalifornien geboren, ist eine amerikanische Schriftstellerin, Journalistin und Literaturkritikerin. Sie schreibt für zahlreiche Zeitungen, darunter The New York Times, Wired und The Guardian. Katie Kitamura lebt in New York. Bei Hanser erschienen ihre Romane Trennung (2017) und Intimitäten (2022).
Katie Kitamura: Intimitäten. Aus dem Emglischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2022. 24 €