Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Im Juli 1941, als meine Mutter ihre Heimatstadt Kiew verließ, war sie noch keine sechs Jahre alt. Alles was Sie mir über ihre Kindheit erzählte, drehte sich um den Krieg. Sie hatte Erinnerungen an das Davor, aber im Krieg hatte sie gefunden, was ihren Hunger nach großen Gefühlen, ihre natürliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit stillte. Am Krieg maß sie alles, was danach geschah.

Der Krieg brachte die Trennung vom Vater, den Abschied von der Kindheit und die erste beschwerliche Reise durch das riesige Land. Als der Krieg zu Ende war, lebte ihr Großvater nicht mehr, ihre Großmutter Anna und ihre Tante Ljolja waren getötet worden, ihr Vater Wassilij war verschwunden. Mir schien, dass ihre Erinnerungen an das Davor – die Ausflüge mit dem Großvater ins Kino, das Ginsburg-Haus am Ende der Straße, damals das höchste Haus der Stadt – nur für eine späteres Wiedersehen bestimmt waren, denn der Krieg leuchtete in beide Richtungen, das Davor gab es nicht mehr, und die Erinnerungen wurden zum einzigen Beweis der Vergangenheit.

Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin. Sie studierte in Tartu, Stanford und Moskau Literaturwissenschaft und ist als Journalistin für deutsch und russischsprachige Medien tätig. Ihr literarisches Debüt Vielleicht Esther (2014) wurde in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Tbilissi und Berlin.

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Suhrkamp Verlag. 12 €