Kim Thúy: Der Klang der Fremde

ALS ICH AM FLUGHAFEN von Mirabel durch das Bullauge des Flugzeugs die ersten Schneebänke sah, fühlte ich mich auch entblößt, ja nackt. Ich war nackt trotz des kurzärmeligen orangefarbenen Pullis, den wir vor unserer Abreise nach Kanada im Flüchtlingslager von Malaysia erstanden hatten, und des von Vietnamesinnen grobmaschig gestrickten braunen Wollpullovers. Mehrere von uns drängten in diesem Flugzeug fassungslos und mit offenem Mund an die Fenster. Nach unserem langen Aufenthalt in lichtlosen Orten musste eine so weiße, so jungfräuliche Landschaft uns ja erstaunen, blenden, berauschen.
Ich war betäubt von all den fremden Lauten, die uns empfingen, und von der riesigen Eisskulptur, die über einen Tisch voller Sandwiches, Vorspeisen, Häppchen wachte. Ich kannte kein einziges dieser Gerichte, von denen eins farbenprächtiger war als das andere, aber ich wusste, dass dies ein Ort der Freuden, ein Traumland war. Es ging mir wie meinem Sohn Henri: Obwohl weder taub noch stumm, konnte ich weder hören noch sprechen. Mir waren die Anhaltspunkte abhandengekommen, die Instrumente des Traums, die Mittel, mich in die Zukunft zu projizieren, um die Gegenwart in der Gegenwart leben zu können.

Kim Thúy, geboren 1968 in Saigon, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Montréal. Sie arbeitete als Übersetzerin und Rechtsanwältin, war Gastronomin und Gastrokritikerin für Radio und Fernsehen. Ihr erster Roman, ein Überraschungs-Bestseller in Kanada und Frankreich, wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Kim Thúy: Der Klang der Fremde. Aus dem Französischen von Andrea Alvermann und Brigitte Große. DTV 8,90€