Lisa Kreißler: Blitzbirke
Wäre Oskar nicht im Krankenhaus, würde er mit offener Brust durch Odinsgrund spazieren, um jedem, der ihm begegnete, mit einem aufdringlich fröhlichen „Hallo!“ seine guten Absichten zu bezeugen. Denn es ist wichtig, einander zu grüßen. Einen schlechten Menschen erkennt man schon allein daran, dass er nicht grüßt, wenn er einem auf der Straße entgegenkommt. Ob man einander kennt oder nicht, man muss sich grüßen, das hat Oskar seine Kinder gelehrt.
Mir fällt es nicht leicht, diese Regel zu befolgen, wenn ich zu Besuch bin. Denn wenn ich hier laufen gehe oder spazieren, dann ist mein oberstes Ziel, niemandem, wirklich niemandem, zu begegnen. Ich gehe, so wie jetzt, eine Straße im Ort entlang, vollkommen erleichtert, weil kein Mensch weit und breit zu sehen ist, nur Häuser, Vögel, Land. Ich beginne mich einzurichten in dieser Verlassenheit, ja, ich fühle mich heilsam ruhig und allein. Und gehe so dahin, atme, gehe, schaue, und plötzlich taucht jemand am anderen Ende der Straße auf, ein einzelner Mensch, nicht einer unter vielen, und es ist ganz unmöglich, jetzt einfach kehrtzumachen, ich laufe tapfer auf den anderen zu, bemerke, dass auch der andere mich bemerkt hat und dass eine Begegnung unausweichlich wird, und in dem Moment, wo sich die Augen des Gegenübers schärfen, wo er in Grußweite kommt, übermannt mich der Wunsch, ihn einfach wegzudenken, blicklos an ihm vorbeizuziehen, als wäre er eine eilig zu passierende Bedrohung.
Lisa Kreißler ist studierte Theaterwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Empfangsdame in einer Anwaltskanzlei, als Journalistin und Kellnerin in Berlin und Stockholm und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Für ihren ersten Roman Blitzbirke erhielt sie den Nicolas-Born-Debütpreis.