Lorena Simmel: Ferymont

Mit Plastikeinkaufskörben stellten wir uns an einem Ende des Feldes in einer Reihe auf und begannen, die Fläche nach Spargel abzugehen. Die Gruppe bestand aus sieben oder acht älteren Männern, darunter Zef, mit dem ich am Morgen aus Ferymont zum Nusshof gefahren war und der gerne las und felsenfest behauptete, es gäbe nichts, was besser schmeckte als frisch geschnittener grüner Spargel bei Sonnenaufgang.
Seine Frau und er wohnten seit Anfang der 1990er Jahre in Ferymont. Sie lebten in zwei separaten Wohnungen, was beiden, wie Zef erklärte, die nötige Leichtigkeit für ein gelungenes Zusammenleben verleihe. Sie hatten eine Tochter, Meret, die in der Schweiz geboren und vor ein paar Jahren „zurück“ nach Pristina gezogen war.
An einem der ersten Vormittage auf dem Spargelfeld fragte mich Zef, ob ich, da ich erzählt hatte, dass ich in Berlin Literaturwissenschaft studierte, den Lyriker Ali Podrimja kennen würde, dessen Gedichtband mit dem Titel Ich sattle das Ross den Tod die erste deutschsprachige Buchveröffentlichung eines zeitgenössischen albanischen Lyrikers überhaupt gewesen sei. Die Sonne ging hinter der Anhöhe, auf der Ferymont lag, auf, Zef kaute auf einem Spargel und zitierte aus einem Gedicht:
„Der Tod singt weiter / in Sarajevo / und abgerissene Menschenköpfe / kommen weiter als Geschenk / für das schlafende Europa.“
Er intonierte die Zeilen, indem er eine Art Tremolo in seine Stimme legte. Zef war mager und großgewachsen. Er bückte sich und schnitt in einer Bewegung mit seinem Messer einen Spargel genau zwei Zentimeter über der Erdoberfläche ab. Als er sich aufrichtete, sagte er: „Beim Anblick der Berge hier fällt mir immer Podrimja ein.“ Er legte den Spargel in den an seinem Arm baumelnden Plastikkorb. „Er hat in seinen Gedichten oft die karge Berglandschaft Gjakovas beschrieben, des Städtchens, in dem er geboren wurde. Wenn ich über die Gegend hier schreiben würde, dann wohl ein einfaches, kurzes Gedicht.“
Er bückte sich wieder. Als er sich aufgerichtet hatte, sagte er: „Bei Ferotex werden Zäune hergestellt, / Metallverstrebungen und große Nieten. / Sie werden auf Lastwagen verladen / und bis über die Landesgrenzen hinaus / verfrachtet. – So zum Beispiel. Wie findest du das?“
„Gut!“, sagte ich. „Echt!“
Zef lachte.

Lorena Simmel, 1988 in Fribourg (Schweiz) geboren, studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel sowie Europäische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin und in Warschau. Lorena Simmel lebt in Berlin.

VERANSTALTUNG: Im Rahmen eines Verlagsabends am 11. Juli 2024 wird Lorena Simmel aus ihrem Roman Ferymont lesen. Erfahren Sie hier mehr.

Lorena Simmel: Ferymont. Verbrecher Verlag, Berlin 2024. 22 €