Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner
Er sieht: das trostlose Grau des Himmels, das trostlose Braun der Heiden, windwankende Wälder. Ein feiner Regenschauer zieht in der Ferne unter der Wolkenkante, Böen blasen sterbende Vegetation über das Land. Sodbrennen vom Kaffee im Hals, mattes Hungergefühl, gleichzeitig Appetitlosigkeit; der Gedanke an Essen löst Übelkeit aus. Und immer wieder dieser Druck auf seinen Schultern und im Nacken. Etwas presst ihm die Luft aus dem Brustkorb, dass er selbst erschrickt, weil er laut seufzen muss. Also betrachtet er die Herde, die Alttiere, die unterschiedlichen Charaktere, die ruhigen und die ruhelosen, die neugierigen und die ängstlichen, stellt einmal mehr fest, dass sie wie Menschen untereinander ihre Streitigkeiten und Freundschaften haben. Er denkt darüber nach, wie robust die Tiere sind, und dann, zack, darüber, wie schutzlos, seit Kurzem, wie schutzlos hier draußen. Und schon ist er bei seinem Vater, der alleine zu Hause herumsitzt, wo er sich genauso um die Tiere sorgt und nun auch noch um ihn, Jannes, weil er es zugelassen hat, dass man sich um ihn sorgen muss.
Er vergräbt die Hände in den Jackentaschen, betrachtet die schunkelnden Kiefern. Er fühlt einen Gegenstand an seiner linken Hand, zieht in aus der Jackentasche: der halbe Katzenschädel. Er erinnert sich an vorgestern. Gruselig, wenn er darüber nachdenkt, seltsam alles. Für eine Sekunde hat er das Verlangen, den Knochen wegzuschleudern, doch er entscheidet sich anders, behält ihn in der Hand wie einen Stressball und betrachtet den Waldrand im Südosten, über dem Krähen treiben wie Ascheflocken. Wenn er dort geradewegs hindurchgehen würde, denkt er, käme er an der Stelle am Zaun heraus. Da huscht etwas in seinem Blickfeld. Er zuckt herum, zwei Tauben stieben aus einem Wacholderbusch zum nächsten, trocken verstummt das Geräusch ihrer Flügel. Ihm kommt ein absurder Gedanke: Vielleicht ist es das Land, das ihm etwas sagen will, das ihm etwas antun will, vielleicht ist es die Heide.
In den nächsten Stunden verliert er langsam den Glauben an seine Wahrnehmung, tippt die einfachsten Zahlen und Uhrzeiten in seine Handynotizen. Als ihm auffällt, dass ein Mutterschaf den Hinterlauf seltsam nachzieht, und später, als er auf den Weidewiesen mehrere, wohl von Wildschweinschnauzen umgegrabene Stellen findet, schaut er sich peinlich berührt um, dann fotografiert er es, filmt es, um seine Beobachtungen im Zweifel beweisen zu können.
Markus Thielmann, geboren 1992, lebt in Hannover. Er studierte Geografie und Philosophie in Osnabrück, anschließend Literarisches Schreiben in Hildesheim. Von Norden rollt ein Donner ist sein zweiter Roman.
Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner. C. H. Beck Verlag, München 2024. 23 €