Megan Hunter: Die Harpyie

Wir lebten alle in unserer eigenen Version von Elternwelt, einem Ort, an dem nichts geschah. Wir streamten Serien, um uns zu erinnern, wie sich ein Leben anfühlte, in dem etwas passierte, in dem eine einzige Nacht das Leben völlig auf den Kopf stellen konnte. In unserer Welt waren Babys passiert, das war zumindest etwas. Aber kaum eine von uns hatte noch Babys oder auch nur ein Kleinkind, und wenn wir über diese Zeit sprachen, dann mit jener stillen Andacht, mit der die Alten über den Krieg sprachen, uns wurden die Augen feucht, wenn wir an diese Atmosphäre zurückdachten, die Körperlichkeiten des Atems, das amorphe Verschwimmen von Zeit und Raum.

Die meisten von uns pausierten beruflich immer noch oder waren in den Dauerzustand eines schlecht bezahlten Teilzeitjobs hineingerutscht. Wir waren Jahre von der Reihe aufeinanderfolgenden Scheidungen entfernt, die mit dem Teenageralter unserer Kiinder einsetzen würde, wenn deren Aufbegehren uns auf körperliche, nicht zu leugnende Art und Weise an Welten erinnern würde, in denen etwas passierte. Aber derzeit waren die Familien stabil. Die meisten Männer in unserem Viertel hatten gut bezahlte Jobs und reisten viel. Die meisten Ehefrauen waren, trotz Berufsausbildung und Universitätsabschlüssen, das Elterntaxi und zählten die Tage, bis ihre Männer aus Stockholm oder Singapur zurückkamen. Wenn etwas hereinbrach – Krankheit, Tod, Scheidung -, war das ein Meteorit, als lande etwas aus dem All in unserem Leben.

 

 

Megan Hunter geboren 1984 in Manchester, lebt mit ihrer Familie in Cambridge. Ihr Debüt erschien 2017 bei C.H.Beck auf Deutsch, die Rechte wurden auf Anhieb in zehn Länder verkauft. Der Roman stand auf der Shortlist für den Novel of the Year bei den Books Are My Bag Awards und auf der Longlist für den Aspen Words Prize, war Finalist bei den Barnes and Noble Discover Awards und gewann den Foreword Reviews Editor’s Choice Award.

Megan Hunter: Die Harpyie. Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen. C.H.Beck Verlag. 22 €