Nadine Schneider: Wohin ich immer gehe
In Familien lebt man eine Weile, fühlt sich aufgehoben oder nicht. Man erträgt Einiges und überhört Vieles, man steht selten einfach auf und geht. Man sagt kaum einmal, was man wirklich denkt, wundert sich über diese Menschen, die man, würde man ihnen als Fremde an einem anderen Ort zufällig begegnen, vermutlich kein zweites Mal sehen wollen würde. Man liebt, obwohl man nicht will, und verachtet noch leidenschaftlicher. In Familien stirbt man.
Selbst wenn man einfach mal aufgestanden und gegangen ist, selbst wenn man sich entfremdet und abgewandt hat, ist der Tod wie ein Magnet, der noch einmal alle um eine Mitte versammelt. Und auch an dem Tag, an dem Giulias Großmutter beerdigt wurde, war der Friedhof voll. Es war ein strahlend heller und windiger Tag, an dem man ständig Haare im Gesicht hatte, an dem die Kleider wie Fahnen flatterten. Schwarze Strumpfhosen und schwarze Krawatten, Sonnenbrillen, an denen das Licht entgleiste. Es brach sich in Johannes‘ Augen, der keine Sonnenbrille trug und an dem Tag weinte, heulte wie ein Schlosshund, der sich nicht einkriegte und sich gleichzeitig schämte. Beim Ave Maria, das ein Streichtrio in der Kapelle spielte, fing er an zu weinen, er weinte auch, als er eine Blume in das offene Grab warf. Und Giulia, die an dem Tag bleich, aber gefasst war, sah ihn immer wieder an, mit einem Blick, als verstünde sie die Welt nicht mehr.
Nadine Schneider studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Ihr erster Roman Drei Kilometer (2019) wurde u.a. mit dem Hermann-Hesse-Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin und arbeitet nach Stationen an der Komischen Oper und der Vaganten Bühne Berlin für den Bundeswettbewerb Gesang.
HÖREN: Zum Roman „Wohin ich immer gehe“ hören Sie auch die zweite Folge unseres Podcasts Ungebunden: Kennen Sie Nadine Schneider?
Nadine Schneider: Wohin ich immer gehe. Jung und Jung, Salzburg 2021. 22 €