
Rachel Kushner: See der Schöpfung
Ich ging im waldigen Bereich hinter dem Parkplatz pinkeln. Während ich da hockte, fiel mein Blick auf eine neon-orangefarbene Frauenunterhose, die sich auf Augenhöhe im Gebüsch verfangen hatte.
Das fand ich nicht weiter seltsam. Lkw-Spuren und ein im Gebüsch hängen gebliebener Slip: Das ist „Europa“. Das wahre Europa ist kein schickes Café an der Rue de Rivoli mit vergoldeten Fresken, kleinen Tässchen der berühmten chocolat chaud, hellrosafarbenen und mintgrünen Baby-Macarons und nach zu viel Shopping völlig überdrehten Kindern, die sich auf ihre Kekse freuen, rituelle Belohnung eines Samstagsausflugs mit maman. Das ist eine Vorstellung von Europa, wie gewisse Pariser sie hegen, und sie ist genauso unwirklich wie die idyllischen Szenen der Fresken in den schicken Cafés.
Das wahre Europa ist ein grenzenloses Liefer- und Transportnetzwerk. Das wahre Europa sind eingeschweißte Paletten mit ultrahocherhitzter Milch, Nesquikpulver oder Halbleitern; Autobahnen und Kernkraftwerke; fensterlose Verteilungslager, vor denen unsichtbare Männer, Polen, Moldawier, Mazedonier, mit ihren leeren Lkws zurücksetzen und Waren einladen, um sie durch ein gigantisches Netzwerk namens „Europa“ zu befördern, von dem ein texasgroßes Stück „Frankreich“ heißt. Diese Männer werden Gewichtsvorschriften ihrer Ladungen ebenso ignorieren wie Sicherheitsüberprüfungen ihrer Bremsen. Sie werden jemandem zu Hause in ihrer jeweiligen Nationalsprache texten, englischsprachige Popmusik hören und ihre Bedürfnisse vor Ort befriedigen, an leeren Parkplätzen auf Gebirgspässen.