Ralf Rothmann: Junges Licht

Es war der erste Tag der Ferien, das leichte, etwas ungläubige Erwachen in der Sonne, die schräg durch die Topfblumen auf mein Bett fiel. Ich gähnte, kniete mich aufs Kopfkissen und schob den Vorhang ein Stück weiter auf, langsam, um kein Geräusch zu machen. Sophie schlief noch. Sie hatte sich den Daumen in den Mund gesteckt, und am kleinen Finger, leicht abgespreizt, glänzte etwas von dem Nagellack meiner Mutter.

Unter den Obstbäumen im Garten lag Spielzeug, ein Plüschhund, Förmchen aus Weißblech, Möbel aus der Puppenküche. Am Zaun lehnte die Axt. Hinter dem Rhabarber und den Johannisbeerbüschen schlängelte sich der lehmgelbe Weg mit der Grasnarbe an den Feldern vorbei, Hafer und Weizen. Die Grannen glänzten silbern, wenn Wind darüberfuhr, und auch der Mohn am Feldrand bewegte sich leicht, Blütenblätter flappten hin und her. Ein paar Vögel flogen wie aufgeschreckt über die Fernewaldstraße, frisch mit Rollsplit belegt, und verschwanden hinter den Silos und Förderbändern, die aus der Kiesgrube ragten. Auf der Spitze des Baggerarms saß ein Falke.

Ralf Rothmann wurde 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Ralf Rothmann: Junges Licht. Suhrkamp Verlag. 8€