Richard Wagamese: Das weite Herz des Landes

Der Junge setzte sich neben ihn, und sie starrten beide die Felswand an. In mattem Rot, Schwarz und hellem Grauweiß waren Bilder daraufgemalt. Vögel waren zu sehen, seltsam geformte Tiere, andere, die nach Pferden oder Bisons aussahen, gehörnte Wesen, Sterne und verschiedene Linien und Formen. Die Zeichnungen erstreckten sich volle sieben Meter nach oben und bedeckten die gesamte Wand. Sie betrachteten sie eine lange Zeit wortlos. »Bring mich näher ran«, sagte sein Vater leise. Der Junge stand auf und half ihm hoch. Zusammen schlurften sie zur aufragenden Wand. Sein Vater streckte die Hand aus und legte sie auf den Felsen. Dann schob er sie seitwärts und bedeckte eine kleine Hundegestalt. Er hob den Kopf und betrachtete das Gesamtbild. »Was sollen sie bedeuten?«, fragte Eldon. »Weiß ich nicht. Soweit ich es mir erklären kann, sind es Geschichten. Ich schätze, bei manchen geht es ums Reisen. So kommt es mir vor. Andere handeln davon, was einer im Leben gesehen hat. Der Alte glaubt, dass niemand sie wirklich versteht.«

»Sind ja mächtig nützlich, wenn keine Mensch sie verstehen kann.«

Der Junge zuckte die Achseln. »Ich denke irgendwie, ein Geheimnis muss man Geheimnis sein lassen, sonst hat man nichts davon. Hast du nie irgendwelchen Indianerkram gelernt?«

Sein Vater senkte den Blick. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Felswand und glitt daran hinab, bis er auf dem Boden saß. Mit einer Hand fuhr er sich über die Stirn, schloss die Augen und holte tief Luft. »Nee«, sagte er schließlich. »Meist war ich bloß damit beschäftigt zu überleben. Der Bauch voller Bohnen gewinnt immer gegen den Kopf voller Gedanken. Von Geschichten hat noch niemand leben können. Verstehst Du?«

»Glaub schon«, sagte der Junge. »Also, ich wollte immer mehr darüber wissen, wo ich herkomme.« Der Junge zog seinen Tabak aus der Tasche und drehte zwei Zigaretten. Ein oder zwei Minuten rauchten sie schweigend. »Ich konnte früher stundenlang hier sitzen. Als ich dreizehn war, habe ich mal drei Tage hier verbracht. Dachte irgendwie, wenn ich die Zeichnungen bloß lange genug anschaue, dann finde ich raus, was sie mir sagen wollen.«

»Und, haben sie? Was gesagt?«

Ein Adler glitt über das Tal. Von irgendwo weit unten hörte man das Jaulen von Kojoten und das Brechen eines Zweiges, als etwas Großes sich über ihnen durch die Bäume bewegte. »Nicht so richtig, schätze ich. Jedenfalls nichts Wirkliches.«, sagte der Junge nach einer Weile. »Aber ich hatte das Gefühl, niemand kommt mehr hierher. Als hätten alle vergessen, dass es da ist. Das hat mich traurig gemacht. Darum bin ich weiter hergekommen, damit wenigstens einer da ist, auch wenn ich nicht wusste, wie ich sie lesen sollte oder was sie sagen wollten. Immerhin war jemand da.«

Richard Wagamese, geboren 1955 im Nordwesten Ontarios, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern Kanadas und indigenen Stimmen der First Nations. Er veröffentlichte 15 Bücher, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. Als Kind von seinen Eltern getrennt, aufgewachsen in Heimen und bei Pflegefamilien, die ihm eine Beziehung zu seinen indigenen Wurzeln verboten, wurde Wagamese erst im Alter von 23 Jahren wieder mit seiner Familie vereint. Er ließ sich in Kamloops, British Columbia, nieder, wo ihm später von der Thompson Rivers University die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Richard Wagamese verstarb im Jahr 2017.

Richard Wagamese: Das weite Herz des Landes. Blessing 22€.