Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen
Hinter dem Haus, Wiesenhang und Wald überragend, die Umrisse des Greits. Verdichtetes Dunkel,
in den Himmel geschoben, und der Grund für Xavers Nervosität. Er wusste, was die Familie von
Noah durchmachte. Sein Großvater war ebenfalls verschwunden. Nicht im Winter, sondern im
Sommer, nicht im Schnee, doch auch auf diesem Berg. Xaver dachte an die damaligen Messen, die
mitleidigen Blicke und Beteuerungen, dass Konrad bald zurückkehre… Als wären seither nicht Jahre
vergangen, spürte er dieselbe Ohnmacht. Wie gut ein Körper Erinnerungen speichert. Zum Warten
verdammt. Zum Hoffen. Auf eine Nachricht, die Erlösung von der Ungewissheit.
Es hatte alltäglich begonnen: Er trank in der Küche ein Glas Wasser, draußen knallten Freunde den
Fußball gegen das geschlossene Garagentor; das Telefon klingelte, eine Verwandte aus dem
Nachbartal erkundigte sich nach Konrad. Nach einer Hochzeitsfeier habe er bei ihr geschlafen und
sei morgens los, um entlang der Forstwege zurückwandern. Ich wollte, dass er mit dem Bus fährt,
aber auf mich hört er nicht, sagte sie. Sei so gut und schau nach, ob er schon eingetroffen ist.
Xaver ging in die Werkstatt, doch da war niemand. Abends schnappte er Fetzen eines anderen
Telefonats auf: Sie sei sich nicht darüber im Klaren, sagte Anna, ob man zweiundsiebzig Stunden
warten müsse, doch ja, er werde vermisst, das wolle sie anzeigen. Mitte Achtzig, aber rüstig,
vielleicht war er auch einfach nur in einem Gasthaus hängen geblieben.
Robert Prosser, Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit »Phantome« (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. »Verschwinden in Lawinen« ist sein erster Roman bei Jung und Jung.
Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen. Jung und Jung, Salzburg 2023. 22 €