Ronya Othmann: Die Sommer

Die Tante sah völlig anders aus als in allen Sommern im Dorf, wo sie immer ein geblümtes Kleid, Plastiklatschen und ein Kopftuch getragen hatte, unter dem an der Hüfte die Spitze des Zopfes so herausschaute wie bei allen Frauen ihres Alters. Jetzt aber war sie in einen grünen, über und über glitzernden Pullover gezwängt, in dem sie schwitzen musste und der billig aussah mit seiner großen Aufschrift Party Girl, dazu eine Stretch-Jeans und Pumps aus Schlangenlederimitat. Warum hatte sich die Tante so verkleidet? Leyla brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass es Tarnung sein sollte.
Die Tante, immer noch ihre Tante, auch in dieser fremden Kleidung in diesem fremden Italien, hatte Tränen in den Augen, als sie Leyla küsste, und dann ihren Bruder und ihre Schwägerin.
Italienische Mode, sagte sie und lachte. Gefällt es euch? Sie habe es gleich nach ihrer Ankunft gekauft, auf einem Markt beim Hafen. Alle sechs quetschten sie sich in das Auto. Sie hielten gleich darauf noch einmal, kurz vor der Schnellstraße. Ihr habt doch sicher Hunger, sagte der Vater und legte seinen Arm um Rohats Schulter. Sie kauften Sandwichs und Cola für die drei aus dem Dorf. Leyla verstand, dass die merkwürdige Verkleidung von Tante Pero eine Europäerin darstellen sollte.

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne »OrientExpress« über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne »Import Export«. 2020 erschien im Hanser Verlag ihr Debütroman »Die Sommer«, für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde.

Ronya Othmann: Die Sommer. Hanser Verlag. 22 €