Sheila Heti: Reine Farbe

Ständig waren wir wütend. Ständig neidisch. Und erleichtert, dass uns dabei Leute zusahen, die genauso wütend und neidisch waren wie wir. Einige machte es nervös, dass die Zeiten sie abhängen würden; sie wandten sich von der Kultur ab und dem Vergnügen zu, die Tage wie eh und je vergehen zu sehen – mit der Sonne, die morgens auf- und abends unterging. Wir waren neugierig auf die kommende Welt, aber erleichtert, dass deren Probleme nicht mehr unsere sein würden. Einige schöpften eine herrliche Art von Ruhe daraus, dass sie sich im Angesicht eines solchen Chaos und Wandels ganz klein machten, ganz minderwertig, ganz bedeutungslos. Und doch sah man inmitten all dessen im Regal noch Bücher, die Hunderte – ja Tausende! – von Jahren alt und bis heute bedeutsam waren. Das galt für kein einziges aus den letzen zwanzig Jahren.
Wie schafft es ein Buch durch diese schwierige Phase – zwanzig Jahre zu alt und doch nicht alt genug zu sein –, bevor es zu etwas Natürlichem wird, einem integralen Teil der menschlichen Zivilisation, so massiv und unausweichlich wie ein Baum? Ein Baum zu werden ist für ein Buch die größte Hoffnung. Aber wie geht das vor sich? Und warum geht es bei manchen Büchern und bei anderen nicht? Wer ist verantwortlich dafür, ihnen diesen Platz zuzuweisen, und wer trägt nur Platzanweiseruniform? Wer geleitet eigentlich so ein Buch durch seine schwierigen, bedeutungslosen Jahre in die Tiefe der Zivilisationen?

Sheila Heti, geboren 1976 in Toronto, wo sie heute noch lebt, ist die Autorin des internationalen Bestsellers Wie sollten wir sein? (dt. 2014), der ein Generationenbuch für die Millenials wurde. Mit Leanne Shapton und Heidi Julavits verfasste sie Frauen und Kleider (dt. 2015), ebenfalls ein programmatischer Band mit Texten, Bildern und zahlreichen Interviews zum Thema Frauen und Mode. 2019 erschien Mutterschaft. Heti schreibt u.a. für den New Yorker und die New York Times; ihr vielfältiges Werk, vom Drama bis zur Bühnenshow, vermischt auf raffinierte Weise Elemente von Kunst, Autobiographie und Journalismus. Die New York Times listete sie unter den 15 bedeutsamsten Frauen, die bestimmen, wie wir im 21. Jahrhundert Literatur lesen und schreiben werden. Für ihren Roman Reine Farbe wurde sie 2022 mit dem kanadischen Governor’s General Literary Award ausgezeichnet.

Sheila Heti: Reine Farbe. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 24 €