Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss
Sie gingen heute quer durch kleinere Täler. Die Sonne hatte an Kraft gewonnen, wärmte das Heidekraut und das fahle Vorjahresgras. Es duftete wie an einem glücklichen Morgen, als man noch ganz klein war, und das legte sich jetzt wie ein schwerer Boden in einen hinein. Was man alles noch nicht wusste. In diesem Duft war ein wenig davon. Feierlich gingen sie einher, aber der leise Holzbläserton ließ ihre Augen glänzen.
Siss hielten sie in ihrer Mitte. Wenn sie zur Seite ging, bildete sich ein neuer Kreis um sie. Sie schaute zu der barschen, stillen Anführerin hinüber und dachte: Das braucht ihr nicht.
Im ersten Tal. Dann den Hang hinauf – und sie wussten, dort vom Hügel aus konnte man den Wasserfall in der Ferne sehen. Darum eilten sie den Hang hinauf.
Und da war er. Weit hinten stand das gewaltige Eis-Schloss weiß in seinem Rahmen aus dunkler Frühlingserde. Vom Schmelzwasser zerstört war es nicht.
Tarjei Vesaas (1897-1970) verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Großstädte schuf Vesaas kontinuierlich ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Für »Das Eis-Schloss« erhielt er 1964 den Preis des Nordischen Rats, den wichtigsten Literaturpreis Skandinaviens.
Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz Verlag 22€