Teju Cole: Open City
Anfänglich erlebte ich die Straßen als eine unaufhörliche Geräuschkulisse, ein Schock nach der Konzentration und relativen Ruhe des Tages, so als zerrisse jemand die Stille einer abgeschiedenen Kapelle mit einem dröhnenden Fernseher. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menge der Kauflustigen und der Angestellten, durch Baustellen und an hupenden Taxis vorbei. Wenn ich durch belebte Teile der Stadt lief, fiel mein Blick auf mehr Menschen, hundert- oder sogar tausendmal mehr Menschen, als ich den ganzen Tag zu sehen gewohnt war, doch der Eindruck dieser zahllosen Gesichter trug nicht dazu bei, mein Gefühl der Isolation zu lindern; es wurde eher noch verstärkt. Auch die Müdigkeit nahm zu, eine Erschöpfung, die ich seit den ersten Monaten als Assistenzarzt drei Jahre zuvor nicht mehr gespürt hatte. Eines Abends lief ich einfach immer weiter, bis zur Houston Street, die ungefähr sieben Meilen entfernt lag, und fand mich schließlich in einem Zustand verwirrter Ermüdung wieder. Ich musste kämpfen, um auf den Beinen zu bleiben. An diesem Abend nahm ich die U-Bahn nach Hause, aber anstatt sofort einzuschlafen, lag ich auf dem Bett, zu müde, um mich vom Wachzustand zu lösen. Und in der Dunkelheit ließ ich noch einmal die zahlreichen Ereignisse und Bilder meines Streifzuges ablaufen und versuchte die Begegnungen zu sortieren, wie ein Kind, das mit Bauklötzen spielt und versucht herauszufinden, welcher Klotz wo hingehört, welcher zu welchem passt. Jedes Viertel schien aus einem anderen Stoff zu bestehen, einen anderen Luftdruck zu haben, eine andere psychische Aufladung: die strahlenden Lichter und verlassenen Läden, die Sozialbauten und Luxushotels, die Feuerleitern und Stadtparks. Ich sortierte weiter, vergeblich, bis die Formen ineinander verschmolzen und abstrakte Gestalten annahmen, die nichts mehr mit der tatsächlichen Stadt zu tun hatten. Erst dann begann mein hektisches Gehirn, endlich Gnade zu zeigen und Ruhe zu geben, und traumloser Schlaf überfiel mich.
Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Nigeria auf und kam als Jugendlicher in die USA. Er ist als Kunsthistoriker, Schriftsteller und Fotograf tätig und hat eine Stelle als Distinguished Writer in Residence am Bard College inne. Teju Cole lebt in Brooklyn, New York.
Teju Cole: Open City. Aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson. Ullstein Verlag, Berlin 2024 (Erstveröffentlichung 2011). 13,99 €