Gonzales - Das spröde Licht

Tomás González: Das spröde Licht

In dieser Nacht lag ich lange wach. Auch Sara neben mir schlief nicht. Ich sah ihre braunen Schultern, ihren Rücken, der trotz ihrer neunundfünfzig Jahre noch schlank war, und fand Trost in ihrer Schönheit. Von Zeit zu Zeit hielten wir einander an den Händen. Keiner in der Wohnung schlief, keiner sprach. Manchmal hörte man, wie jemand hustete oder auf die Toilette ging und sich wieder hinlegte. Unsere Freunde Debrah und James waren gekommen, um uns nahe zu sein; sie lagen auf einer Matratze im Wohnzimmer. Venus, Jacobos Freundin, hatte sich in dessen Zimmer zurückgezogen. Unsere Söhne Jacobo und Pablo waren vor zwei Tagen mit einem gemieteten Kombi nach Chicago aufgebrochen und von dort nach Portland geflogen. Irgendwann war mir, als hörte ich leise Gitarrentöne aus dem Zimmer von Arturo, unserem dritten Sohn. Von der Straße drang der nächtliche Lärm der Lower East Side herauf, Schreie, zersplitternde Flaschen, so wie immer. Etwa um drei dröhnten ein paar Motorräder der Hells Angels vorbei, die ihren Treffpunkt zwei Häuserblocks von unserer Wohnung entfernt hatten. Dann schlief ich fast vier Stunden durch, ohne zu träumen, bis mich um sieben Uhr ein stechender Schmerz tief in mir weckte, es war die Angst vor dem Tod meines Sohns Jacobo, den wir für sieben Uhr abends in Portland, zehn Uhr nachts New Yorker Zeit, geplant hatten.

Tomás González wurde 1950 in Medellín/Kolumbien geboren. Er studierte Philosophie, war Barmann in einer Diskothek in Bogotá, betrieb eine Fahrradmontage-Werkstatt in Miami und lebte 16 Jahre lang als Journalist und Übersetzer in New York. 2002 kehrte er nach Kolumbien zurück.

Tomás González: Das spröde Licht. S. Fischer Verlag. 17.99€ Aus dem Spanischen von Rainer Schultze-Kraft und Peter Schultze-Kraft