Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S.

Die Dinge verändern sich schleichend. Jeder von uns hat die Wochen hinter Gittern anders durchlebt. Philip S. hat sich dagegen aufgelehnt, eingesperrt zu sein. Ich habe mich in mich selbst zurückgezogen. Er ist laut geworden. Ich wurde leise. Er hat den Aufstand geprobt, hat die anderen Gefangenen aufgewiegelt, sich den Anweisungen der Wärter zu widersetzen. Ich habe mit den Wärterinnen gesprochen. Ihn haben die Wärter mit Judogriffen niedergerungen. Mich hat keine Wärterin jemals berührt. Er zieht jetzt eine scharfe Linie zwischen sich und denjenigen, die er als Feinde begreift. Ich kann nicht in Feindschaft leben, auch wenn ich vieles als feindlich empfinde. Er hat geschworen, sich nie wieder einsperren zu lassen. Ich habe geschworen, mich nie mehr für etwas einsperren zu lassen, für das ich nicht geradestehen kann. Er glaubt, dass er dem Gefängnis nur entkommen kann, wenn er ein anderer wird. Ich glaube , dass ich es nur aushalten kann, wenn ich bei mir selber bleibe. Er ist rausgekommen, um wegzugehen. Ich bin in mein Leben zurückgekehrt. Er hat mich im Gefängnis an seiner Seite gesehen. Aber ich war nicht dort, ich war bei meinem Kind. An dieser Unvereinbarkeit zerbricht das gemeinsame Leben. Es geschieht in kleinen Schritten, von uns selbst unbemerkt.

 

Ulrike Edschmid, 1940 in Berlin geboren, aufgewachsen in der Rhön/Hessen, studierte Literaturwissenschaft, Pädagogik und an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Sie lebt in Berlin.

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