
Buch sein
05.05.2020Mitte April. Ich stehe als einziger Kunde in meinem Lieblings-Thai-Take Away, in der linken die warme Box mit dem Vegi-Curry, in der rechten das abgezählte Geld. Meine rechte Hand bewegt sich auf die leere Hand des Verkäufers zu. Gebe ich ihm das Geld in die Hand oder lege ich es auf die Theke? Wir zögern beide, unsere Blicke gehen sich aus dem Weg. Ich lasse das Geld mit einer ungeschickten Bewegung in seine Hand fallen, er zieht sie schnell zurück, kippt die Münzen unsortiert in seine Kasse, lächelt verhalten. Ich drehe mich zur Tür. Soll ich zum Abschied noch etwas Plauderiges sagen, um ihn meiner ungebrochenen Treue zu versichern? Ich sehe vor der Tür den nächsten Kunden, sage ein hastiges Tschüss und verlasse das Lokal.
Der Mensch ist des Menschen Wolf, denke ich, als ich in Richtung meiner Lieblingsparkbank gehe. Schon lange nicht mehr waren wir einander auf so augenscheinliche Weise gefährlich. Und wissen nicht, wie wir miteinander umgehen sollen. Schrecklich, sich gegenseitig derart belauern zu müssen. Wir wollen das nicht, wir wollen freundlich zueinander sein, auch in diesen schwierigen Zeiten. Doch wie funktioniert freundliches Raubtier?
Auf meiner Lieblingsparkbank liegt etwas. Es ist ein Buch, ohne Schutzumschlag, ein Lesezeichen guckt über den Rand hinaus. Ich schaue mich um. Hier und dort Jogger im Doppelpack, ein Labrador, der seiner Nase hinterherhetzt, aber kein vergesslicher Leser. Vielleicht kommt er zurück, denke ich und setze mich ans andere Ende der Bank. Ich esse, im Augenwinkel stets das leserlose Buch. Schön, wie es auf seinen Besitzer wartet. Oder nächsten Leser. Ich könnte mein Curry hinstellen, kurz den Klappentext lesen, erste Sätze kosten. Fast tue ich es. Aber dann denke ich: Vorfreude! Also weiteressen. Weiteressen und immer wieder der Blick auf das Buch, und der Gedanke an die Geduld der Bücher, ihren Gleichmut inmitten unserer neu erworbenen Raubtierhaftigkeit, unserer Ausweich- und Lauertänze.
Vielleicht sollten wir alle mehr Buch sein, denke ich, eine weitere Gabel Curry in mich hineinschoppend. Vielleicht sollten wir öfters mit geschlossenen Deckeln auf Parkbänken sitzen und dem Vergehen der Zeit zuschauen. Und mit dabei immer die Zuversicht, dass früher oder später jemand kommt. Dann der Moment, in dem es tatsächlich passiert. Wie er sich zu uns setzt und unseren ersten Satz liest. Dieses Gefühl. Wie Gekitzeltwerden. Und wie man dabei in sich selbst liest, fast wie zum ersten Mal.
Ich stelle die leere Currybox hin und versuche einfach nur dazusitzen, als Buch. Nicht so einfach. Ich wende mich dem Typen neben mir zu. Er nickt freundlich und stellt sich vor: „Menschen neben dem Leben“, Roman, von Ulrich Alexander Boschwitz, Klett-Cotta Verlag 2019. Dann stelle ich mich ihm vor, und gleichzeitig beginnen wir einander zu lesen. Schön ist das. Hinter uns begegnen sich zwei, die sich kennen, sie umtänzeln sich freundlich lauernd. „Menschen neben dem Leben“ von Boschwitz und ich beachten sie nicht. Wir lesen jetzt.
Jens Steiner ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Im Herbst erscheint sein neuer Roman: Ameisen unterm Brennglas im Arche Literatur Verlag. Wir würden ihn gerne zu einer Lesung einladen!!!