
das land, in dem abraham seinen sohn opfern sollte *
26.05.2020Ich bin zehn Minuten zu spät, habe verärgert mit dem Schlüssel im Schlitz herumgebohrt, eine fremde Münze war stecken geblieben, meine Münze daraufhin auch, dann noch eine, weil ich mich beeilt habe. Die Münzen haben’s eng im Schlitz. Dann fallen sie auf einmal alle heraus, Erleichterung. Schnell die Straße hoch, die Menschen sitzen wieder draußen in Cafés an Tischen, ungewohnt. Gedächtniskirche. „Direkt gegenüber dem Bikini-Haus. Gerne Pappschilder o.Ä. mitbringen mit entsprechenden Forderungen!“, war die Bitte. Habe keine Pappe dabei, nur meine Maske, die habe ich jetzt immer in meiner Jackentasche und habe mich schon daran gewöhnt zu kontrollieren, ob ich sie nicht vergessen habe, bevor ich das Haus verlasse. Geht schnell mit dem Gewöhnen. Drei Treppchen rauf hinter der Baustelle an der Kirche, quer über den Platz, drei Treppchen wieder runter. Mit Kreide aufgemalte Kreise, in die man sich im Abstand zueinander hineinstellen kann, wie viele Meter weiß ja jedes Kind. „Man muss nicht … keinen Abstand halten, sondern miteinander spielen, aber aufpassen, dass man nicht krank wird und … nicht einander anfassen! Alles klar?“, erklärte mir mein Vierjähriger.
Ich stelle mich in einen Kreis rechts außen, vorne weht eine grüne Europa-Fahne mit gelben Sternchen. Ein paar maskierte Andere sind ebenfalls gekommen, manche mit Pappe, eine junge Frau sogar mit Mini-Verstärker. Sie tanzt auf der Stelle, zieht ihre Jacke aus, sieht sexy aus, dann weht kühler Wind, sie zieht ihre Jacke wieder an. So richtig Frühling ist es nicht. Irgendwann im Verlauf zähle ich die Kreidekreise, nicht die kaukasischen, die deutschen, auf dem Asphalt.
Gedächtniskirche, das Wort … Gedächtnis … weckt Assoziationen, Erinnerungen, denn das sind Assoziationen doch, unbewusste Erinnerungen an etwas, woran man sich vielleicht gar nicht erinnern kann, wie Schreiben, sagt Siri, nicht die aus dem Smartphone, die Echte, aus Blut und Gedanken – Siri Hustvedt. „Erzählende Prosa zu schreiben, eine imaginäre Welt zu erschaffen, ist, so scheint es, wie die Erinnerung an etwas, was nie geschehen ist.“
Gedächtnis, Gedenken, Gedanken, Erinnerung, Denken ist Erinnern, Schreiben ist Denken, Erinnern ist Erfinden, Erfinden ist Denken, ohne Denken gibt es keine Erinnerungen, ohne Erinnerungen keine Zeit, ohne Zeit kein Bewusstsein, ohne Bewusstsein keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Würde, ohne Würde keine Rechte, ohne Rechte kein Zusammenleben, ohne Zusammenleben keine Liebe, ohne Liebe kein Glück, ohne Glück keinen Kitsch, ohne Kitsch keine Kunst, ohne Kunst keine Kultur, ohne Kultur keine Gesellschaft, ohne Gesellschaft keine Politik, ohne Politik keine Systeme, ohne Systeme kein Geld, ohne Geld keinen Kapitalismus, ohne Kapitalismus etwas anderes. Was? Was wird das nächste sein, woran wir uns kollektiv in den Geschichtsbüchern erinnern werden? Welches System, welche Regelung, welche Entwicklung zum Besseren oder Schlechteren, welcher evolutionäre Schritt? Was sollten wir unbedingt noch schaffen, bevor uns – unserer Zeit entsprechend – nicht mehr die Revolution frisst, sondern das Klima? Und vor wem bekennen wir uns für diese Katastrophe „schuldig“, wenn es keinen Gott gibt, der beschlossen hat, das Polareis schmelzen zu lassen, um die Menschen zu bestrafen für ihre Sünden? Vor uns selbst? Vor unserem Gewissen? Ist das nächste System, das wir ausprobieren werden, um unseren Lebensraum zu retten, das Gewissen, die Diktatur des Gewissens? Das wäre zumindest neu, hat es noch nicht gegeben, nur vereinzelt. Vereinzelt haben einzelne Individuen immer wieder bewiesen, dass das menschliche Gewissen Gerechtigkeit schaffen kann. Im Dritten Reich haben einzelne Menschen Leben gerettet, indem sie ihre Mitbürger in Kellern versteckten, oder in Koffern aus den Ghettos trugen, Widerstand leisteten in welcher Form auch immer. Es war in allen Kriegen so, egal wann, gleichgültig wo. Auch im Privaten, in Familienkonstellationen gibt es immer wieder die, die Unrecht tun, und die, die sich trauen zu widersprechen, auf Würde zu bestehen. Gewissenhaft sein geht, aber geht es auch allgemein? Als Gesetz? Als Forderung? Als Dogma? Ohne Ausnahmen? Macht nicht jeder gewissenhafte Mensch manchmal eine Ausnahme von seinem Gewissen, weil Gewissen eben keine Religion ist, oder gerade weil auch eine Religion sich heimlich ihre Ausnahmen erlaubt? Ist es grundsätzlich eine Ausnahme, dass in einer unrechtmäßigen Grundsituation doch Recht geschehen kann?
„47 Kinder wurden ausgewählt“, habe ich heute im Radio gehört.
Ein junger Mann mit gerötetem Gesicht und einer Geschwulst, einem kleinen runden Tumor am Hals, torkelt an mir vorbei, brüllt den Polizisten zu, die sich einige Meter weiter platziert haben (ohne Maske und ohne Abstand zueinander): „Wolfram, der heute durchs Regierungsviertel lief, ist mir bekannt! Russischer Religionsverräter! Am Alex stehen mehr Polizisten als Zivilisten herum! Und bei euch hier: drei!“ Ein älterer Herr, ebenfalls in einem Kreidekreis mit Transparent in der Hand, antwortet: „Ja, wir sind ja auch die Guten.“ Der Tumor schwankt davon, der ältere Herr erzählt einer älteren Frau mit Maske (oder der älteren Maske mit Frau), dass die Fussballspiele Moabit-Wedding früher legendär gewesen sein sollen, einfach nur legendär!! Sie nickt ungeschickt. Auf den sich entfernenden Tumor weisend, merkt der ältere Herr noch ironisch an: „Mein Klientel!“ Wahrscheinlich ist er Sozialarbeiter. Ein kleiner junger Blonder kommt mit einem DIN A4 Papier und unleserlichen, ausgeblichenen gelben Schriftzeichen dazu und fragt verlegen, ob noch einer rein passt. 20 Kreise, 2 sind noch leer. Er passt. Dingliduuu… Video-Nachricht. Meine ehemalige Mitbewohnerin aus Australien schickt mir eine weitere amateurhaft zusammengeschnittene Kollektion von „Walk-Videos“, Freunde aus aller Welt filmen sich dreißig Sekunden lang beim Irgendwohingehen, sie nervt mich seit Wochen damit. Also gut, ich filme die Masken mit Transparenten um mich herum, auch eine auf dem Boden kriechende Pubertierende, die mit Kreide „Evacu…“ auf die Charlottenburger Pflastersteine zeichnet, und meine Turnschuhe, wie sie auf der Stelle laufen, mein demonstrierender „Auf-der-Stelle-Walk“. Ich frage mich geknickt ob die letzte Erinnerung an die Geschichte der Menschheit die sein wird, dass der Mensch immer beides kann – empathisch sein und vernichtend, und zwar jeder Mensch? Geht es immer nur um den Begriff der Menschlichkeit, zu allen Zeiten?
Fetzen aus dem Radio geistern weiter in meinem Ohr herum: „Es kann nicht sein, dass wir allein dafür verantwortlich sein sollen und es keine europäische Lösung gibt …“, während die Grenzen weiterhin größtenteils zu sind und jetzt gerade 18 Paar Turnschuhe auf der Stelle treten. Wie lange noch?
„Say it loud, say it clear, refugees are welcome here … Um Europa keine Mauer, Bleiberecht für alle und auf Dauer“, reimt es sich.
Ein Straßenputzgefährt rollt an uns vorbei, macht kurz Halt, zieht seine Bürsten demonstrativ ein und fährt erst dann über den mittlerweile vollständigen Schriftzug: „Evacuate Moria“. Eine schöne Geste vom Straßenputzgefährt, kurzes Jubeln von uns allen. Eine kleine Party mit Abstand oder eine mit Abstand kleine Party.
„Dit is ne Kundgebung hia!“, berlinert ein sich herangepirschter Polizist und scheucht einen Skater weg, der auf seinem Board in großen Kreisen um unsere kleinen Kreise herumrollt.
Die ältere Frau, mit der der ältere Herr anzubandeln versucht, fragt mich über die Schulter hinweg nach der Uhrzeit.
Keine Zeit mehr.
„Wir sind laut, wir sind mehr, holt die Menschen her.“
*moria
Marina Frenk wurde in Moldawien geboren und lebt seit 1993 in Deutschland. Sie ist Musikerin, Schauspielerin und Schriftstellerin, und hätte gerne am 18. Mai ihren Debütroman: ewig her und gar nicht wahr, erschienen im Wagenbach Verlag, im Weingut Dilger vorgestellt.