Die Bauwagenzeit

21.09.2020

Die Atemhöhle unter der Bettdecke. Der mit Teppichen und Handtüchern als Beduinenzelt nach allen Seiten hin verhängte Stubentisch. Das Lager, der Verschlag, hinter der Bretterwand im Holzschopf. Die Strickleiter hinauf ins wild zusammengenagelte Baumhaus. Alles Vorstufen nur, bis man endlich alt genug war für ihn: den Bauwagen, von der Straßenbaufirma ausrangiert. Ungenehmigt abgestellt auf einer überlassenen Parzelle, auf der Baumwiese hinterm Ortsrand, wo die Reichweiten endeten. Abseits geteerter Feldwege, denen man ansah, daß noch kein Vagabund je auf ihnen gegangen war. Eine Festung vor der Überheblichkeit der Ferne. Domizil, in Eigenleistung ausge-baut, die Inneneinrichtung vom Sperrmüll zusammengetragen. Ohne Strom-anschluß, dafür Musik aus einem rauschenden Kofferradio und ein Kanonen-ofen, auf dem Dosenravioli sich aufwärmen ließen. Statutenloser Verein, dessen Vereinszweck es war, keinen zu haben. Mofarocker, für die alles durch sechs teilbar schien, ein Männerbund nach der ersten Milchbartrasur, im toten Winkel von Kasernentor und Klosterpforte. Woanders sollte man den Mund halten oder das Maul aufmachen, hier konnte man reden und fühlte sich, solang genug Bierkästen da waren, selbst im Sommer wie in einer Berghütte eingeschneit. Draußen feierte die Jahreszeit, ohne Pfarrer und ohne Gemeinde, ihren Feldgottesdienst. Die erste Freundin, die dann einer mitbringt, würde der Haarriß im Gefüge sein.

Von Walle Sayer

Walle Sayer lebt mit seiner Familie in Horb und schreibt Gedichte und Prosa. Er erhielt verschiedene Auszeichnungen.