Ein Buch der Unruhe

08.03.2019

Betritt ein gutmütiger Mensch den Basar von Istanbul, kommt er im besten Fall mit den herrlichsten Preziosen, im schlechtesten mit allerlei Flitter beladen und schlecht gelaunt wieder heraus. Der gutmütige Mensch in Matthias Nawrats neuem Roman Der traurige Gast ist Schriftsteller, sein Basar sind die Straßen von Berlin, und was er von seinen Streifzügen mitnimmt, sind Geschichten ‒ berührende, traurige, irritierende, mitunter aber auch banale Geschichten. Auch er ist folglich nicht immer bester Laune. Geradezu auffällig konturlos ist er, dieser Protagonist wider Willen. Als Schriftsteller hat er drei Erzählbände veröffentlicht, wie Nawrat stammt er aus der oberschlesischen Stadt Opole, auch die weiteren biografischen Daten stimmen weitgehend überein: früh nach Deutschland ausgewandert, Jugend in Franken, Studium in Freiburg, landet er schließlich in Berlin. Hier gibt er sich weder als erfahrungshungriger Flaneur noch als hauptstadttypischer Kiez-Aficionado, vielmehr scheint er
nirgendwo richtig dazuzugehören. Und trifft doch ständig auf Menschen, die ihm ungefragt von sich erzählen.

Da ist die Architektin Dorota, ebenfalls in Opole aufgewachsen. Sie erzählt von ihrer Kindheit, von dem Großvater, der von den Nazis erschossen wurde, von ihrem Ekel angesichts der Folgsamkeit ihres Vaters im kommunistischen Polen. Auch von ihren Liebschaften erzählt sie, von ihrer Ehe und von dem galizischen Dichter Arnold Słucki, der das ganze polnische 20. Jahrhundert in sich zu tragen schien. Da ist Dariusz, Arzt aus Lublin, der in den Achtzigern aus Furcht vor einer sich anbahnenden Ehe-Hölle nach Deutschland floh, dort seinen Sohn verlor, zu trinken begann und daraufhin auch noch seine Approbation als Arzt loswurde. Da ist der Schauspieler Eli aus dem rumänischen Kronstadt, dessen Vater ein Nazi war. Da ist Karsten, ein Studienkollege des Schriftstellers, mittlerweile ein erfolgreicher Biologe, der mit dem Familienalltag nicht zurechtkommt. Neben diesen komprimierten Biografien finden sich in Nawrats Roman vielerlei lose aneinandergereihte Begegnungen und Beobachtungen. Arbeitet man sich lesend durch diese Geschichten, begreift man, dass die Eigenschaftslosigkeit des Protagonisten geradezu notwendig ist für den Roman. Nur diese bietet jenen Resonanzraum, in dem das Gemeinsame all der Geschichten aufklingen kann. Die Schrecken des europäischen und besonders des osteuropäischen 20. Jahrhunderts, aber auch ihre Wiedergänger in der Jetztzeit – einer davon ist der Anschlag am Berliner Breitscheidplatz, der wie eine unsichtbare Hand in des Protagonisten Nacken greift –, sammeln sich in diesem Resonanzraum zu einem Grundton der menschlichen Niedertracht, der Unbehaustheit, des existenziellen Schreckens. Zu dieser historischen Perspektive gesellt sich ein Gegenwartsgefühl, das in einem Begriff, den die Architektin im Zusammenhang mit dem Dichter Arnold Słucki verwendet, eine aufschlussreiche
Entsprechung findet. Im Polnischen, so die Architektin, bezeichne das Wort Gehenna nicht die jüdische Hölle, sondern »die Rastlosigkeit des Alltags, den Berufs- und Alltagsstress, wie man heute wohl sagen würde, das ständige Unterwegssein in der Welt der Erledigungen und Erniedrigungen, die Hölle des weltlichen Daseins, in das der Mensch nach dem Sündenfall vertrieben worden war.«

Der traurige Gast ist ein Roman über die Gegenwart, doch in seiner Temperatur, seinem reduzierten Puls ganz und gar ungegenwärtig. Auch sein Protagonist scheint nicht in die Hyperreaktivität des Heute zu passen. Nicht nur fällt es ihm schwer, auf die Geschichten unmittelbar zu reagieren, er kann sie auch kaum einordnen. Ganz ähnlich geht es der Leserin, dem Leser des Romans. Immer dann, wenn man glaubt, die Fülle von Geschichten mit einem Handgriff am Schlafittchen packen zu können, erscheint ein neuer Querschläger, der sich dagegen sträubt. Ja, die Welt ist ein Basar, der in seiner disparaten Anordnung nicht nur für schlechte Laune sorgt, sondern auch zutiefst beunruhigt. Es ist diese von ihm ausgehende stumme Unruhe, die dieses Buch zu einem eigenwilligen und höchst lesenswerten Querschläger in der gegenwärtigen Literatur
macht.

Jens Steiner über Matthias Nawrat: Der traurige Gast im Rowohlt Verlag, 22€.