Flaschenpost

08.04.2019

Norbert Zähringers Roman „Wo wir waren“ beginnt mit der Grußbotschaft, die Jimmy Carter 1977 mit den Sonden Voyager 1 und 2 als Flaschenpost in die unendlichen Weiten des Weltalls geschickt hat und auf Deutsch so lautet: „Dies ist ein Geschenk einer kleinen, weit entfernten Welt, eine Probe unserer Klänge, unserer Wissenschaft, unserer Bilder, unserer Musik, unserer Gedanken und unserer Gefühle. Wir versuchen, unser Zeitalter zu überleben, um so bis in Eure Zeit hinein leben zu dürfen.“
Vielleicht erschließt sich die Poesie dieser Zeilen in ihrer terrestrischen Bedeutung, erst heute so richtig, nämlich als Flaschenpost einer Zeit des euphorischen Aufbruchs in neue ferne Welten an eine auf das Maß eines von scheinbar unaufhaltsamen Sachzwängen schwer angefressenen Schimmelbelags auf einem einsamen Sandkorn im Universum geschrumpfte manisch-depressive Menschheit.
Zähringer hatte offenbar ein Ohr für diese Poesie und aus ihr das Kompositionsprinzip für sein neues Buch entwickelt. Es beginnt am 21. Juli 1969, Neil Armstrong hat gerade die Leiter der Landefähre betreten, aber noch nicht als erster Mensch den Fuß auf den Mond gesetzt. Dieser Zeitpunkt lässt sich so genau bestimmen, weil Zähringer dem Kapitel eine merkwürdige Zahlenangabe voranschickt: 109:24:15. Vielleicht Sternzeit? So etwas wie „Sternzeit 1277,1“, die sich als Captain Kirks Geburtstag am 22. März 2233 entschlüsseln lässt?
Tatsächlich bezieht sich die Angabe auf den Mitschnitt der Kommunikation der Apollo-Mission, der auf dem Mond bei 109:15:45 mit Buzz Aldrins „Bereit, runterzugehen und ein paar Mondsteine aufzusammeln?“ beginnt. Zähringers Angabe liegt kurz nach Armstrongs „Ich werde jetzt das LM [Lunar Module/Mondfähre] verlassen.“ Gebannt verfolgt der 5-jährige Hardy Rohn, dessen Individualität sich zu diesem Zeitpunkt auf die Insassennummer 13 eines Waisenhauses beschränkt, heimlich auf dem Bildschirm eines Wärters, wie Armstrong die Leiter hinuntersteigt, und wartet auf den entscheidenden Schritt, mit dem der Astronaut auf einer fremden Welt stehen wird.
Entscheidend für Hardy Rohn ist der Mond aber nur als Ablenkung, die ihm erlaubt, ebenfalls der Enge seiner bisherigen Welt, dem Waisenhaus, zu entkommen. Seine ersten Schritte in der neuen Welt führen ihn geradewegs in den überquellenden Phantasiepool, der letztlich auch Armstrong auf den Mond gespült hat. Er landet nämlich im Wohnzimmer eines SF-Weltenschöpfers, der dem Gründungsautor des bis heute größten und dauerhaftesten Weltraumepos „Perry Rhodan“ nachempfunden ist. Aus von purem Technikoptimismus ernüchterten zeitlichem Abstand lässt sich für Hardy und seine Flucht und damit auch für Zähringers Roman Armstrongs berühmtester Satz am Ende umdrehen: Die Mondlandung war ein kleiner Schritt für die Menschheit, ermöglichte aber einen großen Sprung für den kleinen Hardy.
Aber vielleicht wird Norbert Zähringer am Mittwoch erzählen, dass alles ganz anders gemeint war. Wer immer das hier liest, sollte in jedem Fall das „Wo wir waren“ des Autors für den 10. April 2019 mit „In der Buchhandlung Schwarz“ beantworten.

Von Jürgen Reuß