Veränderungen?

27.08.2020

„(…)

Das elektrische Licht verlängert unseren Tag,

Die Streichholzschachtel ist leer,

Doch ein blauer Kranz Gas brennt noch auf dem Herd.

(…)

Zigaretten in der Hand, Tee auf dem Tisch – hier schließt sich der Kreis,

Plötzlich haben wir Angst etwas zu ändern.

„Veränderungen!“ – verlangen unsere Herzen.

„Veränderungen!“ – verlangen unsere Augen.

In unserem Lachen und in den Tränen,

Und im Puls unserer Venen:

„Veränderungen! Wir warten auf Veränderungen!““

(Viktor Zoi)

Ich entdecke einen Mitschnitt auf YouTube von einem der aktuellen Protest-Märsche in Belarus auf dem eine Gruppe Musiker mit Dread-Locks, Dudelsäcken und Trommeln auf einer Demonstration läuft und ein auf der ganzen Welt bekanntes Lied spielt (faszinierend daran ist, dass der Song tatsächlich in eine internationale Liste der „die Welt veränderten“ Lieder aufgenommen wurde, jedoch trotzdem nur Insidern bekannt ist).

1986 (in meinem Geburtsjahr) wurde der Song „Ich will Veränderungen“ von Viktor Zoi, einer russischen Rock/Pop/Punk/Avantgarde Legende, auf dem IV Festival des „Leningrader Rock-Clubs“ zum ersten Mal von dem sich dort versammelten Publikum gehört. Schnell wurde der Song für viele zum Soundtrack der Perestroika-Zeit, wurde schneller politisch als es gemeint war, und wird seitdem immer wieder als Protestsong und als Zeichen von Widerstand jeglicher Art in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eingesetzt. Dabei berichtet der Sohn Zois viele Jahre später, und auch Zoi selbst noch zu Lebzeiten hat es so ausgelegt, dass der Song nicht als Protest gegen das Regime, nicht als Zeichen politischen Widerstands entstanden ist. Eigentlich soll der Text von viel tiefer greifenden Veränderungen gehandelt haben, nämlich den Veränderungen, die jedes Individuum in sich selbst durchmachen kann, und den Veränderungen in uns allen, die seit Jahrhunderten schon gemacht werden müssten aber es nicht tun (und niemals tun werden?!?). Es soll kein Lied für die Massen gewesen sein, für die „Horde“, obwohl es seitdem immer wieder auf Massendemonstrationen und Veranstaltungen großen Formats gesungen wurde, sondern ein Song für den engsten Kreis, „für die, mit denen wir abends in der Küche zusammen sitzen“ (Georgij Kasparjan, Gitarrist der von Zoi gegründeten Rockgruppe „KINO“). Das Lied wurde seitdem immer wieder von unterschiedlichen politischen Gruppierungen mit unterschiedlichen politischen Gesinnungen für ihre eigenen Zwecke zu gebrauchen versucht, von Rechten sowie von Linken.

Ich spüre es körperlich, wenn ich beginne darüber nachzudenken, es stimmt: Veränderungen sind die müßigsten Vorgänge, die es überhaupt gibt. Wirkliche, nicht vorgetäuschte innere Wandlungen. Am allerschwierigsten sind wohl die Veränderungen im eigenen Denken. Der Versuch eingerichtetes, bequemes, erprobtes Denken umzuwandeln, Muster anhand derer man selbst die Welt begreift und selbst nicht mal mehr sagen kann wie lange schon. Wie lange frage ich mich schon, wann ich es endlich schaffe mich selbst nicht mehr zu hetzen und wann ich es endlich schaffe keine Angst vor dem Tod mehr zu haben? Wann ich es endlich schaffe aufzuhören zu zählen, zu halten, zu kontrollieren, nach endgültigen Antworten zu suchen? Keine Veränderung in Sicht. Meine Muskeln und Sehnen und die Hirnwindungen haben das inhaliert und sie nähren sich davon. Eine andere Art zu denken macht mir Angst nicht mehr ich selbst zu sein, was eine noch ältere für mich gewohnte Frage mit sich bringt (die Schrecklichste): wer bin ich???

Wann werde ich es schaffen eine kleine, aber alles verändernde Veränderung durchzumachen: auf meine Gedanken zu hören, aber sie nicht für stärker als mich zu halten, sie als eine Stimme unter vielen zu sehen, sie in einem polyphonen Chor einzuordnen wie überhaupt alles Menschliche, das sich in so vielem ähnelt und sich doch individuell unterscheidet (ohne dass das eine besser ist als das andere oder schlechter) und vor allem nicht sinnvoller! Und wann endlich mache ich DIE VERÄNDERUNG meines Lebens durch, nämlich zu begreifen, dass es keinen Sinn gibt? Der Sinn ist leer, könnte alles sein, ist es auch, eine Idee, wie so viele andere Ideen, unnötig, weil nicht real umsetzbar (mutiert permanent und macht was er will, einfach unkontrollierbar, ein Desaster gleich einem Baby – kaum geboren, schon Chaos verbreitend!).

„Noch dazu hat das Leben gezeigt, dass der Song eine höchst fragwürdige Angelegenheit ist. Ich habe selbst mit den Armen gewedelt in der Menge von Zehntausend Menschen damals im Gorki Park. Und in dieser Menge, ich schwöre es, wusste kein einziger, welche Veränderungen er wirklich wollte, und kein einziger, niemand wollte sie wirklich. (…) Es ist doch tatsächlich keine einfache Sache „Veränderungen“ zu brüllen, und nicht zu wissen, was genau du willst.“ (Sergej Solowjow, bekannter russischer Filmregisseur, u.a. des Films „ASSA“ in dem das Lied verwendet wurde.)

Jetzt sehe ich also 2020 wieder Bilder von jungen Menschen in einer in Minsk (Belarus) demonstrierenden Menge in weißen Kleidern, gegen das Regime Lukaschenkas marschierend und dieses Lied singend, das in meinem Blut pulsiert wie die Zeilen in dem Song selbst, die von dem „Puls“ handeln, weil ich Zoi rauf und runter gehört habe in meiner Jugend, obwohl ich diese in Deutschland verbracht habe, obwohl ich bewusst nichts von der Perestroika mitbekommen habe, weil ich zu jung war, und trotzdem unterbewusst nach einem Ausdruck für meinen inneren Widerstand gesucht habe in der Musik aus dem fremden „Heimatland“, das gleichzeitig nah und verwandt war (scheinbar, in Erinnerungen, die ich nicht gehabt habe, in Nostalgien von russischem Rock, die verschroben und falsch waren, weil ich nichts davon wirklich verstanden habe, aber irgendetwas gespürt.) Ich wusste damals nicht, dass das Lied angeblich gegen das sowjetische Regime geschrieben war, ich spürte nur auf eine zutiefst egoistische Art und Weise, dass ich selbst nach Veränderungen lechzte, weil ich 15 war, dann 19, dann 25 und immer noch!!! Es hört einfach nicht auf und hat somit nicht nur etwas mit der Perestroika zu tun oder irgendeinem Regime, der Drang nach Veränderung drängt sich einfach immer wieder auf. Ich sehe die Menschen in Belarus marschieren, kriege Gänsehaut von ihrem Mut und weiß gleichzeitig, es ist nicht der passende Song den sie verwenden, davon handelt er nicht, es ist eine Fehlinterpretation und ist in diesem Fall doch komplett stimmig, vielleicht das erste und einzige Mal in der gesamten Geschichte des Liedes, weil es in diesem Fall vielleicht nicht nur um den Sturz einer Regierung geht, sondern im utopischsten Fall um eine neue Demokratie, eine noch nie dagewesene, sogar anders als in Europa.

Was wollen die Menschen in Belarus? Nach Russland? Nach Europa? Zu sich selbst? Soweit ich weiß ist es eine Forderung nach Selbstbestimmtheit eines Volkes. Es möchte autonom sein, seine Sprache sprechen, und frei wählen. Es möchte seine Individualität als Volk in der Welt behaupten. Und doch bin ich mir sicher, dass jeder einzelne von ihnen auch noch etwas anderes ganz eigenes will, dass nichts mit Politik zu tun hat und ich würde am liebsten von jedem Einzelnen einmal hören, was genau es ist.

Veränderungen sind aufwühlend, lebendig, flüssig, geheimnisvoll, verheißend, verheerend und können jede Dimension annehmen, die es nur gibt. Sie sind ansteckend wie Corona, das sich wahrscheinlich in diesem Hochsommer zwischen den Zehntausenden von Menschen auf den Straßen der Belarussischen Städte verbreitet, aber das ist gerade wohl das einzige, was ihnen allen egal ist, Lukaschenka, der das Virus als „Hysterie“ bezeichnet und seinen Gegnern, die das anders sehen. Der Geruch von Veränderungen, die entfernte Möglichkeit davon, das schwarze Loch, das sich aufgetan hat und sie alle verschlingt, das Ereignis hat sich jetzt einfach ereignet und zumindest das ist nicht mehr zu verändern, das wird bleiben, das zumindest sich veränderte Bewusstsein der Menschen dort und der gesamten Welt, die auf diese Ereignisse blickt, auch wenn ein Bewusstsein für etwas noch lange keine reale Wandlung mit sich bringt, keine Tatsachen, keine neuen Gesetze, keine neuen Wahlen, keine neue Realität und keine neue Demokratie.

Wahrscheinlich weiß auch diesmal niemand wirklich, was verändert werden soll, denn es hat doch niemand einen konkreten Plan wer an Lukaschenkas Stelle treten soll und ob dann wirklich etwas anders sein wird, aber es muss!

Der Song klingt für mich wie ein Zitat. Die Menge zitiert wissend darum, dass Veränderungen damals zu Perestroika-Zeiten tatsächlich stattgefunden haben aber (bisher) geendet haben in Putin und Lukaschenka. Müsste jetzt nicht etwas anderes erfunden werden als „Veränderungen“, um etwas zu verändern? Müssten wir nicht endlich begreifen, dass ein anderer Begriff her muss und auch eine andere dazu passende Handlung? Die Menschen in den ehemaligen Sowjetstaaten und jetzt gerade in dieser ganz konkreten letzten Diktatur Europas müssten ihre Idee vom Verändern verändern. Damit sie endlich funktioniert! Aber wie?

„Es ist keine Weisheit in unseren Augen, wir können damit nicht prahlen,

Auch nicht mit gekonnten Handgriffen,

Das alles brauchen wir nicht um einander zu verstehen.

(…)

Zigaretten in der Hand, Tee auf dem Tisch – dieses Schema ist schlicht,

Mehr haben wir nicht, es liegt alles in uns.

„Veränderungen!“ – verlangen unsere Herzen.

„Veränderungen!“ – verlangen unsere Augen.

In unserem Lachen und in unseren Tränen,

Und im Puls unserer Venen:

„Veränderungen! Wir warten auf Veränderungen!““

(Viktor Zoi)

Marina Frenk

 

Der Link zum Song:

www.youtube.com/watch?v=PpaM11TX6ww