Jock Serong: Fischzug

Das Thema ist so alt wie die Zivilisation selbst und macht natürlich auch nicht vor Australien Halt. Hier die Stadt, eine tolerante, offene und vielschichtige Gesellschaft, dort das Land mit seiner rückständigen Bevölkerung. Machtverhältnisse und Hierarchien sind zementiert und von außen kaum durchdringbar. Überall Misstrauen, Schweigen und Feindseligkeit, wenn ein urbaner Freigeist auf provinzielle Engstirnigkeit trifft. So weit das Klischee, das der Australier Jock Serong auf die Füße stellt, genüsslich auseinander nimmt und neu zusammensetzt, so dass nichts mehr davon übrigbleibt. Zum Staunen und zur großen Unterhaltung des Lesers.
In seinem Debutroman „Fischzug“ verfolgt der gelernte Anwalt Serong einen Kriminalfall, in dem im klassischen Sinne alles schon passiert ist. Der Mord und der Tathergang sind so offensichtlich, dass nichts mehr aufgeklärt werden muss, die Täter sitzen im Untersuchungsgefängnis, die Anklage wird vorbereitet. Nur noch die Verhandlung steht aus. Doch was heißt da nur noch? Gerechtigkeit und Wahrheit werden hier verhandelt, und der Urteilsspruch ist das Maß aller Dinge. Und der kann leider auch danebenliegen.
Die Sache hat tatsächlich einen Haken: Der Hauptzeuge – der Bruder des Getöteten, behauptet, dass er in jener Nacht, als es passierte, zu Hause in seinem Bett lag und nicht auf dem Fischerboot war und deshalb gar nichts bezeugen kann.
Für den ermittelnden Staatsanwalt in Melbourne, den alten Hasen Harlan Weir, ist die Lüge zu offensichtlich. Unschuldslämmer waren die Brüder nie und auch nicht gerade ein Herz und eine Seele – im Gegenteil : Nach dem Tod der Eltern sorgten die beiden für ihre kleinen Geschwister. Die ausgebooteten Haifisch-Fänger erledigten Botengänge für die Murchisons. Die Gangster-Familie der Kleinstadt kontrolliert das Haschisch-Geschäft wie auch die illegalen Fänge von wertvollen Meeresschnecken. Da geht es doch um einen Haufen Geld, und Patrick Lanegan hätte seinen Bruder Matt nie im Stich gelassen beim Einfordern ausstehender Honorare. Doch der ist nun tot, hier läuft etwas schief, warum hält sich Patrick aus allem raus ?
Die verarmende Landbevölkerung kämpft ums Überleben, des Autors Sozialromantik weckt die Empathie des Lesers, während der andere Hauptdarsteller mal wieder mit der Menschheit hadert. Charles Jardims Frust eskaliert in Beschimpfungen eines alten halsstarrigen Richters bei einer Gerichtsverhandlung um eine Drogen abhängige Mutter, der Fauxpas könnte ihm seine Anwaltslizenz kosten.
Sein Mentor, der kluge Harlan Weir, schickt Jardim daraufhin in das Fischerstädtchen Dauphin – ein paar Stunden westlich von Melbourne am Ende der Welt. Dort stößt der Anzugstyp natürlich auf Granit und gibt sich jeden Abend die Kante. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen, um mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Aber Vorsicht, nicht in die nächste Klischeefalle tappen. Zumal sich nicht nur Patrick Lanegan als ziemlich kluger Kopf entpuppt.
Anwalt Jardims Aufenthalt bei den „dämlichen Hinterwäldlern“ macht natürlich großen Spaß, doch im letzten Drittel des Romans – nicht anderes als die Gerichtsverhandlung in Melbourne – knistert die Spannung wie die alten Möbel im Gerichtssaal. Dieser großartige Spannungsroman sprengt auch literarisch einige Konventionen.

Jock Serong: Fischzug. Polar Verlag, Stuttgart 2018. 299 Seiten. 18€.