An der Biegung des Flusses

von Joachim Schneider

Grausame Vergangenheit trifft auf eine brutale Gegenwart. Neue Kriminalromane aus Kanada räumen mit liebgewordenen Klischees auf und kratzen an der vermeintlichen Idylle.

 

Als ob das möglich wäre, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten in einer gemäßigten Version: Kanada als die nettere Ausgabe der Vereinigten Staaten, wo alles nicht so brutal und menschenverachtend vonstatten ging – ein bisschen unbegrenzt nur: Die Eroberung, die Freiheitskämpfe, die Besiedelung, die Vertreibung der indigenen Bevölkerung, alles eine Nummer kleiner, Platz genug und nicht so aufgeladen – die Heißsporne, die Siedler, die Kriegsparteien. Hach. Mittlerweile gibt es viele Autoren auch im Krimi-Genre, die mit dieser Wunschvorstellung aufräumen und in manchmal sehr drastischer Weise versuchen, den Blick auf die (historische) Wirklichkeit zu verschärfen. Während immer mehr Gräueltaten an der indigenen Bevölkerung ans Licht kommen.

Kein gewöhnlicher oder sehr literarischer Kriminalroman – vielleicht auch gar keiner – ist das aktuell übersetzte Buch des mehrfach preisgekrönten Kanadiers Éric Plamondon, der seit geraumer Zeit in der Nähe von Bordeaux lebt. In Taqawan verwebt er in ein historisches Ereignis ein fiktives (aber sehr realistisches) Verbrechen. Anfang der 80er Jahre an der Mündung des Restigouche, am „Ende der Welt“ wie der Teil der Halbinsel bei den Ureinwohnern heißt zwischen New Brunswick und Quebec: Im Zuge eines Aufstandes der indigenen Mi‘gmaq gegen diskrimierende postkoloniale Fischereirechte wird Océane, Tochter eines Rebellen, in den Wirren von skrupellosen Mädchenhändlern verschleppt. Der frustrierte Ranger Leclerc und William ein eremitischer Mi‘gmaq machen sich auf die Suche und sind bald einem skrupellosen Netzwerk von Mädchenhändlern auf der Spur. Hochliterarisch bastelt Plamondon eine Text-Collage zusammen aus historischen Schnipseln, indianischen Mythen und einer spannenden Handlung. So ein Gefrickel geht nur allzuoft in die Hosen, sprich auf die Nerven, doch hier funktioniert es magisch grandios.

Die deutsche Autorin Frauke Buchholz lebte einige Zeit in dem Cree-Reservat in der Provinz Quebec. So vermittelt sie eine große Kenntnis der indigenen Kultur, doch vielmehr unterhaltsam ist ihr Blick von Außen auf die zwei Ermittler, die den Mord an der 15-jährigen Jeanette Maskisin aufklären sollen. Der Tod einer jungen, indigenen Frau erregt nun (nach zahlreichen ungeklärten Fällen) die öffentlichen Gemüter, prompt schickt der Staat einen eigenen Ermittler nach Quebec. In Garner, dem Super-Profiler in Staatsdiensten und LeRoux, dem derrangierten lokalen Bonvivant prallen haufenweise – und das sehr unterhaltsam – Klischees und Vorurteile aufeinander, Melancholie und Desillusionierung. Buchholz erzählt konsequent aus deren Perspektive, was umso mehr verdeutlicht: die First Nations müssen ihren Platz in der Gesellschaft erst noch erkämpfen. Frostmond ist krimipreisverdächtig.

Was Brutalität und kriminelle Energie angeht, könnte Ron Corbetts Preisgegeben auch in den USA spielen. Die Mafia und ihre Schergen mit Basis in Montreal offenbaren psychotische und tyrannische Züge, Korruption in Polizeikreisen ist weit verbreitet. Der rabiate Polizist Frank Yakabuski wirkt wie ein anachronistischer, einsamer Held aus einem Western, nur dass dieser im Norden Kanadas spielt. Wo nach einem großen Holz-Boom nicht nur der Wohlstand, sondern auch die Zivilisation auf der Strecke geblieben ist. Eine grausame Auslöschung einer sehr zurückgezogen lebenden Familie gibt anfangs Rätsel auf, bis Ermittlungen und Ereignisse zu einem brachialen Showdown führen. Zudem finden in diesem Thriller – auch sehr literarisch – noch Tagebuch-Notizen, alte Gründerzeitmythen und wirtschaftliche Analysen über den Wert von Holz (auch das wieder aktuell) ihren Platz, doch trotzdem: Tempo und Action lassen in diesem „Northern“ keine Wünsche hoffen. Preisgegeben (im Original Ragged Lake) ist ein bitterböser spannender und auch sehr schlauer Kriminalroman über eine zerlumpte und auch etwas verlogene Gesellschaft.

 

Éric Plamondon: Taqawan. Aus dem Französischen von Anne Thomas. Lenos Verlag 2020. 14,50€.

Frauke Buchholz: Frostmond. Pendragon 2021. 18€.

Ron Corbett: Preisgegeben. Aus dem kanadischen Englisch von Sven Koch. Polar Verlag 2020. 14€.