Es ist alles eine Frage der Perspektive

von Joachim Schneider-Sacotte

Selbst im populären Kriminalroman haben sich mittlerweile Erzähltechniken eingeschlichen, die sich jenseits der altbekannten Schemata bewegen. Dort stehen sich der allwissende Erzähler und der Ich-Erzähler konträr entgegen. Der eine weiß alles, der andere beschränkt sich auf seine Sicht, die natürlich problematisch ist, weil subjektiv und selten identifikationsstiftend oder für Empathie sorgend. Oder anders gesagt: Darin besteht die besondere Kunst, so einen Typ wie Brenner – erfunden von Wolf Haas –, einfach mal loslabern lassen zu können. Und der Leser kann gar nicht anders, als ihn zu mögen. In der Regel sind das ganz besondere Figuren, denen man zuhört, bei Normalsterblichen ist das in der Regel nicht so der Fall – schon gar nicht bei irgendwelchen üblen oder gar langweiligen Typen.

Der allwissende Erzähler wiederum funktioniert in vielen Fällen immer noch gut, zumal diese Erzählweise es ermöglicht, sich in die rätselhaften und geheimnisvollen Vorstellungen des Verbrechers zu versetzen – aus einer moralisch integren Position. Seit den Anfängen des Kriminalromans, im Prinzip seit G. K. Chestertons Father Brown, der sich mehr logisch statt emotional in die Denke des Verbrechers versetzte, erforscht der allwissende Erzähler die menschliche Psyche, mittlerweile hat die Transformation in das Hirn des Verbrechers in der Figur des Profilers seinen mitunter grotesken Klimax erreicht. Grusel, grusel. Wenn der Serienkiller ruft, lässt es sich unterhaltsam in psychopathische Abgründe blicken. Oder was sich der brave Bürger, Autoren mit eingeschlossen, darunter vorstellt.

Etwas anderes ist es tatsächlich, aus der Sicht eines Gangster zu erzählen, den Alltag, die Mühen und auch die Tricks zu kennen respektive glaubhaft zu schildern.

Seit über 30 Jahren (übersetzt nicht ganz so lange) macht das der große australische Autor Garry Disher. Seine Figur Wyatt wirkt schon wie ein alter Bekannter, wenn er wieder auf Streifzug geht. Im Prinzip stiehlt er von Berufskollegen, Hehlern oder Betrügern – offizielle und legale Güter sind mittlerweile viel zu gefährlich. Dieses Mal will er dem gerissenem Finanzbetrüger Jack Tremayne, der nach dem sogenannten Ponzi-Schema – ein Art Schneeballsystem in Direkt-Vermarktung – in der Hafenstadt Newcastle richtig viel Geld gemacht hat, den Fluchtgroschen (ca. 1 Million) stibitzen. Doch nicht nur die Finanzpolizei ist dem Gauner auf den Fersen, sondern auch Ehefrau und Anwalt schicken sich an, ihm auf die Schliche zu kommen, ein Profiteur und angeblicher Freund mischt ebenso mit im Spiel. Diesen Tipp bekam Wyatt von Sam Kramer, einem Betrüger, der im Gefängnis sitzt. Dadurch, dass er den Dieb mit lukrativen Jobs versorgt, kann Kramer auch seine Familie über Wasser halten, da Wyatt eine angemessene Vermittlungsprovision zahlt. Leider wittert auch Kramers nichtsnutziger Sohn, ein verhinderter Rockstar, den Braten, so dass noch eine Partei mehr mit im Boot ist. Und zu allem Übel schnüffelt noch ein Polizist aus Sydney rum, der von den Behörden als einziger wirklich ahnt, was hier vor sich geht. Spannend, hintergründig und ungeheuer plastische Charaktere. Womöglich einer der besten der neun Wyatt-Romane überhaupt. Doch Obacht: Wer einen gelesen hat, will noch mehr, zumal es Disher auch schafft, unterschiedliche australische Ecken sehr eindrücklich zu schildern.

Garry Disher: Moder. Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2022. 14,80 €

 

Zumindest etabliert, wenn auch nicht so berühmt wie Disher, ist der Schotte Doug Johnstone. Für „Eingeäschert“ hat sich der Krimiautor schon etwas Außergewöhnliches einfallen lassen: Johnsone erzählt ausschließlich aus der Perspektive von drei Frauen: von Verzweiflung, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt von zwanghaften Männern. Im malerischen Edinburgh brodelt es gewaltig. Gleich der Anfang hat es richtig in sich und zeigt die Marschroute an. Selbst bei noch so großer Tragik wohnt doch immer auch ein gewisses Maß an Komik dem ganzen inne: Der Chef eines angesehenen Bestattungsunternehmen wird in seinem Garten quasi auf einem Grillrost verbrannt. Es war sein letzter Wille.

Die Trauernden, Witwe Dorothy, Tochter Jenny und Enkelin Hannah, spielen die Hauptrollen in „Eingeäschert“. Dorothy muss den Laden am Laufen halten und entdeckt eine Leiche im Keller. In den Büchern ist eine monatliche Zahlung an eine weibliche Person vermerkt. Jenny, geschiedene Mittvierzigerin, verliert bei allem Frust noch ihren Job als freie Kolumnistin einer Zeitung. Unterschlupf und Arbeit findet sie nun im ungeliebten Familienunternehmen, das nicht nur bestattet, sondern auch ermittelt. Gefestigt erscheint allein Tochter Hannah, Studentin der Astrophysik und in einer festen lesbischen Beziehung, doch als Mel, Mitbewohnerin und Kommilitonin, plötzlich verschwindet, wird sie zur Detektiv-Bestie. Gruselig, intensiv und komplex. Selbst die Details kratzen mit Witz an althergebrachten Klischees: Der gute Polizist hier ist ein schwarzer, schwedischer Mann. Und die Frauen erzählen faszinierend von ihrem Leben, das bisweilen schlimmer erscheint als der Tod. Tröstlich für den Leser, dass sie das schaffen.

Doug Johnstone: Eingeäschert. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger. Polar Verlag, Stuttgart 2022. 25 €

 

Bei „Terminus Leipzig“ manifestieren sich die beiden Perspektiven schon namentlich auf dem Buchdeckel. Das Ergebnis ist überzeugend. Umso schöner, dass eine deutsch-französische Zusammenarbeit sich dafür verantwortlich zeigt. Die preisgekrönten Autoren Jérôme Leroy und Max Annas verfolgen zwei Stränge: Christine Steiner, Commissaire bei der Antiterroreinheit DGSI, schwer gebeutelt durch einen schief gegangenen Zugriff, wird nach dem (vermeintlichen) Selbstmord ihrer Mutter mit ihrer deutschen Herkunft konfrontiert, sprich einem dunklen und verschwiegenen Kapitel aus deren Jugend. Ein altlinkes, immer noch renitentes Paar (nicht verheiratet) sitzt in seiner Datsche nahe bei Leipzig und macht sich so seine Gedanken, wie es vor dem Abriss ihres Refugiums unbemerkt seine Waffen verschwinden lassen kann – nichts ahnend, dass bald eine noch viel größere Katastrophe ihr Leben aus den Angeln heben wird. Christine fährt in den Osten, um mit der Vergangenheit aufzuräumen, doch auch andere wollen sich als Racheengel versuchen. Gut kombiniert und klug verzahnt, steuert die Geschichte unerbittlich ihrem brutalen Ende entgegen. So etwas gab es selten im Original auf Deutsch zu lesen – hier zumindest zur Hälfte. Ein politischer Noir, ein düsterer Action-Roman, knapp skizziert mit schnellen Strichen. Kein Gelaber, keine Küchentischpsychologie, beschränkt auf das Nötigste. Anspielungen auf große französische Kriminalliteratur inklusive. Nichts weniger als ein 120-seitiges Lehrstück in Sachen Spannungsliteratur, deutsch-französische Zusammenarbeit und die Verdoppelung des Autors.

Jérôme Leroy/Max Annas: Terminus Leipzig. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2022. 16 €

 

Vielleicht erinnert sich noch jemand an Gillian Flynns großartigen Thriller „Finstere Orte“ (Dark Places im Original 2009), der den unheimlichen Horror eines mysteriös okkultischen Ritualmordes dadurch ad absurdum führte, indem die Autorin einfach die beteiligten Personen erzählen ließ. Im Grunde lächerlich das Ganze. Der Franzose Franck Bouysse macht es ähnlich, nicht ganz so aufklärerisch wie die Flynn, dafür etwas empathischer, indem auch er einen Beteiligten erzählen lässt. Beide Romane sind sehr lesenswert, obwohl der böse Thriller aus dem Hinterland wieder ein wenig ins zweite Glied gerückt ist. Im Fachjargon auch Southern Gothic oder Country Noir genannt. Dort wo die Verknöcherten, die Rückständigen aber auch letzten Aufrechten ihr Dasein fristen. Im Fachjargon auch Southern Gothic oder Country Noir genannt. In den gequälten Seelen spiegelt sich nicht nur die Willkür der Natur wider, sondern auch die Mühsal des bescheidenen Daseins überhaupt. Enttäuschung, Vergeblichkeit und Verzweiflung gebären Monster. Der französische Autor Franck Bouysse schrieb seinen Roman 2014, der nun als „Rauer Himmel“ auf Deutsch erschienen ist. Und man kann ihn als zeitlosen Klassiker lesen, da er mit Klischees spielt, Vorurteile auf wunderbare Weise entlarvt und geistlose Stereotypen keinen Platz haben. Bouysse schreibt aus der Sicht von Gus, einem Mann im mittleren Alter, der nach dem Tod seiner Eltern alleine einen Bauernhof bewirtschaftet, gut 25 Kühe, davon acht Kälber, versorgen muss, einmal pro Woche einkaufen geht, gerne mal ein Glas Rotwein ext und sich mit seinem Leben arrangiert hat: Er kennt ja nichts anderes. In seinem moderaten Existentialismus wirkt Gus, gar nicht tumb, sehr modern als Alternative zur rigorosen Selbstverwirklichung bzw. Selbstoptimierung. Nicht weit von ihm in den Cevennen wohnt der alte Abel, eben so einsam, aber – und das unterscheidet ihn von Gus – erst nachdem sein traditioneller Lebensentwurf tragisch gescheitert ist.

Seltsamerweise verstanden sich Gus‘ Eltern und Abel überhaupt nicht, dabei wäre nachbarschaftliche Hilfe in dieser rauen Gegend eine große Erleichterung gewesen. Dieses Unbehagen an der Vergangenheit ist nur eines der Rätsel, das gelöst werden will. Ein anderes zum Beispiel wie sich Gus von Abbé Pierre und seinem Tod in einem Fernseher mit schlechtem Empfang in Bann ziehen lässt. Da ist nichts wie es scheint, der erste Blick immer trügerisch. Hier mal ein Wink mit dem Zaunpfahl, dort eine versteckte Andeutung, ist die eine Kunst, die Bouysse so beherrscht, dass selbst die Schneeflocken vor Spannung knistern, die andere ist die poetische Sprache: „Diese Bruchstücke aus der Kindheit kamen an die Oberfläche wie leblose, von Wasser durchtränkte Körper, offenbar wollte das einfach nicht aufhören.“ Mehr zu verraten hieße, die heimelige und gleichzeitig auch unheimliche Atmosphäre, die diesen Thriller ganz einzigartig macht, kaputt zu machen.

Franck Bouysse: Rauer Himmel. Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Polar Verlag, Stuttgart 2021. 22 €

 

„Winter Counts“ heißt das Debüt von David Heska Wanbli Weiden. Wer sich über den Namen wundert: Der studierte Anwalt und Professor in Denver ist eingeschriebener Bürger der Sicangu Lakota Nation, die zum Volk der Sioux gehört und der ein Reservat in South Dakota zugewiesen wurde. Dort spielt auch der erste Kriminalroman des Native American. Sein Held Virgil Wounded Horse ist quasi eine Art Exekutive im Rex: Wenn sich die US-amerikanischen Behörden und der Stammesrat nicht zuständig fühlen, sorgt er für eine angemessene Strafe. Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt, Vergewaltigung oder Drogenhandel wird mit Gewalt vergolten. Kein leichtes Dasein, zumal Virgil noch seinen pubertierenden Neffen erziehen muss. Der Ex-Alkoholiker musste etliche familiäre Schicksale erleiden, da hilft es wenig, dass die Lakota alle miteinander im Geiste verbunden sind. Frustrierter kann ein Ureinwohner kaum sein, nur dass Virgil seinen Kultur- und Lebensüberdruss in harsche Worte fasst, bis sein Neffe an einer Überdosis Heroin fast zugrunde geht. Konfrontiert mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin, den Riten und dem Wissen seiner Stammesgenossen, ändert sich Virgils Verhältnis zu Herkunft und seinem Ich nach und nach. Er agiert als etwas großmäuliger aber auch leidensfähiger und sensibler Ich-Erzähler. Als großer Skeptiker mit einer vernünftigen Distanz anfangs taucht er quasi aus Verzweiflung später in die Exerzitien seiner Stammeskultur ein – und mit ihm seine Leser. Wie er das schafft, ist ungeheuer faszinierend und sehr spannend. Das Drogendelikt entpuppt sich als Spitze eines Eisbergs und Karl May einmal mehr als Scharlatan. Kein Wunder hat David Heska Wanbli Weidens Debüt in den USA einen vielbeachteten Preis bekommen.

David Heska Wanbli Weiden: Winter Counts. Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Polar Verlag, Stuttgart 2022. 16 €