Hari Kunzru: White Tears

In der großartigen unheimlichen Geschichte „White Tears“ des britischen Literaturstars Hari Kunzrus kommt quasi eine (grausame) vergangene Episode an die Oberfläche in Form eines Liedes: Zwischen Retro-Sounds, Umweltgeräuschen, alten Geräten und neuester Technik bahnt sich ein altes leidvolles Mississippi-Bluesstück den Weg in die Gegenwart, genauer in das hippe, gegenwärtige New York. Kunzrus Konstellationen und Konstruktionen sind in vielerlei Hinsicht klassisch: Sein Erzähler Seth, der Nerd, erscheint anfangs als Chronist der Ereignisse, sein Kumpan, der Millionenerbe Carter und dessen reiche Familie als Macher von Geschichte. Beide Hipster verbindet die Liebe zu authentischen Klängen. Doch die Geister werden sie nicht mehr los. Virtuos spielt Kunzru mit verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit, dem Ende von Geschichte (die als Lied wieder auftaucht) und dem Auflösen des Subjekts: Als würde alles aus Schwingungen bestehen, Liebe, Musik, Geschichte, Rasse, der Blues. Doch durch die Projektionen, den Wahn und den Mythos schält sich die Wahrheit. Ganz profan – ein altes Verbrechen. So entpuppt sich „White Tears“ als eine Reise in die Abgründe der (us-amerikanischen) Geschichte und die der menschlichen Seele, zumal Seth der Erzähler, alles andere als ein unbeteiligter Beobachter ist. Wahrheit und Schuld können verdammt gut klingen.

Hari Kunzru: White Tears. Deutsch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Liebeskind 2017. 22€.