Tijan Sila: Radio Sarajevo

Die ersten Stunden des Kriegs verbrachten wir – meine Eltern, mein Bruder und ich – im Keller unseres Wohnhauses. Wir zuckten bei jeder Detonation, schrien und gingen in die Hocke, wenn Raketen durch die Straßenfluchten kreischten, und zwischendurch sprachen wir verängstigt über das, was uns möglicherweise bevorstand. Doch als es Abend wurde, kehrten die meisten in ihre Wohnungen zurück. Der Beschuss hatte in der Dämmerung an Heftigkeit verloren, außerdem war es im Keller zu eng zum Schlafen. Wir lebten in einem unscheinbaren Plattenbau aus den frühen Siebzigerjahren, jenen der ostdeutschen Wohnungsbauserie 70 nicht unähnlich, bloß waren unsere Balkons deutlich kleiner und die Fassade senffarben statt grau oder beige. Über vier Treppenhäuser verteilt beherbergte unser Haus insgesamt 56 Wohnungen. Davon teilten sich jeweils vierzehn einen wohnzimmergroßen Kellerraum, in dem jede Partei ein durch morsche Lattenwände abgegrenztes Lagerräumchen hatte. Sieben standen an der linken Wand, sieben an der rechten, und im engen Flur dazwischen standen wir wie in einem übervollen Straßenbahnwaggon, die Kinder an die Schenkel ihrer Eltern gepresst. Es hätten sich bestenfalls vier bis fünf Leute zum Schlafen hinlegen können, und nach kurzer Diskussion wurde man sich einig, dieses Privileg den Rentnern unseres Treppengangs zu überlassen. Die jedoch wollten, dass man lieber uns Kinder im Keller schlafen lasse.

Tijan Sila, 1981 in Sarajevo geboren, kam 1994 als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Er studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg. 2017 erschien sein erster Roman „Tierchen Unlimited“, 2018 folgte „Die Fahne der Wünsche“, 2021 „Krach“. Darüber hinaus veröffentlichte er Essays in der ZEIT, der TAZ und dem FREITAG. Tijan Sila lebt in Kaiserslautern.

HÖREN: Zum Roman „Radio Sarajevo“ hören Sie auch die sechste Folge unseres Podcasts Ungebunden: Kennen Sie Tijan Sila?

Tijan Sila: Radio Sarajevo. Hanser Berlin 2023. 22 €