Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

stellen Sie sich vor, Sie werden von einer fremden Person angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Genau das ist die auslösende Szene für Julia Schochs Roman Das Vorkommnis, den wir Ihnen im neuen Newsletter vorstellen.

Kennen Sie Stephan Crane? Außerhalb der englischsprachigen Ländern ist dieser Autor, der für Paul Auster mit zu den größten amerikanischen Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts zählt, nach wie vor kaum bekannt. Wir möchten Sie mit seinem Hauptwerk Geschichten eines New Yorker Künstlers bekannt machen.

Traurige Aktualität haben die Texte von Stig Dagerman und Georg Orwell mit ihrem unterschiedlichen Blick auf das zerstörte Nachkriegsdeutschland.

Wir wünschen Ihnen anregende und hoffnungsvolle Lektüre

Ihr Michael Schwarz mit Kolleg:innen

Vom Verlust der Gewissheiten

von Annette Hoffmann

Ungeachtet der Wucht, die das Vorkommnis noch auslösen wird, macht die namenlose Autorin erst einmal einfach weiter. Auf einer Lesereise in Norddeutschland, deren größte Zumutung bis dahin sonderbare Fragen aus dem Publikum waren, wird sie von einer Frau angesprochen, die sich als ihre Halbschwester vorstellt. Ihre Mutter hatte mit der Geschichte bereits abgeschlossen, kurz nachdem sie in der Jackentasche ihres Mannes eine Quittung über entrichtete Unterhaltszahlungen fand. Die Erzählerin, ihre Schwester und ihre Mutter haben dem anderen Kind, das nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde, keine Lücke gelassen. Die Ich-Erzählerin jedenfalls hat mit der 1974 geborenen Julia Schoch nicht allein die ostdeutsche Sozialisation gemeinsam: beide schreiben. Während eines USA-Stipendiums, bei dem ihre mitgereiste Mutter in Bowling Green die Enkel betreuen wird, erkrankt der Vater schwer, und das Vorkommnis sickert in das Bewusstsein und in ihre Existenz ein. Denn, wenn nicht nur der eigene Vater ein weiteres Kind hat und der Großvater im Ersten Weltkrieg zudem mit einer Französin einen Sohn bekam, warum sollte sie dann ihrem eigenen Mann trauen können? Schochs knapp 200 Seiten schmale Roman ist erst der Anfang der „Biografie einer Frau“, die als Trilogie angelegt ist.

Julia Schoch beschreibt in „Das Vorkommnis“ wie ein bis dahin stabiles Leben seine Gewissheiten verliert. Ihr Sohn wird plötzlich aggressiv und wirft im Kindergarten nach einem anderen Jungen mit einem Stein, die Darstellungen ihrer Mutter über die DDR decken sich nicht mit den eigenen Kindheitserinnerungen. Die Beziehungen zu ihrem Mann, der gerade ebenfalls in Amerika arbeitet, aber an einem anderen Ort, wird distanzierter. Die Ich-Erzählerin wird misstrauisch, sie beginnt zurück in Deutschland seine Sachen zu untersuchen und lauert auf Unstimmigkeiten in seinen Erzählungen. „Damals wünschte ich, ich würde einen Roman über all das schreiben. In einem Roman konnte ein Satz stehen wie: Die Wochen vergingen, der Sommer kam, und X vergaß die Begegnung mit der Frau im Dezember. Ich sehnte mich nach einem Stoff, dem ich mich spielerisch nähern konnte. Ich wollte mich ein wenig austoben, mehr nicht.“

Dieser Roman ist „Das Vorkommnis“ nicht. Der Roman reflektiert eine existentielle Verunsicherung, aus der noch kein Ausweg zu sehen ist und die im Widerspruch zur schlackenlosen Prosa steht, die Schoch schreibt. Die Zeit der Wende, die mit Rücktritten von Politikern, der Änderung von Gesetzen und der Enttarnung von Stasispitzeln einherging und in einen Systemwechsel mündete, ist so etwas wie eine Blaupause für die persönliche Krise. So erscheint es nur als ein vermeintlicher Zufall, dass die Autorin in Bowling Green ihren Literaturkurs über den deutsch-deutschen Literaturstreit hält, der sich an Christa Wolfs „Was bleibt“ entzündete. Die Wende wird zu einem Muster für persönliche Veränderungen, die noch anstehen, die Selbstreflexion der Autorin in Wolfs Erzählung jedoch zu einer grundsätzlichen Haltung. Denn obgleich Julia Schoch über Familie schreibt, ist diese hier nicht das Grundfundament des Staates oder die Verbindung des Individuums zu Vergangenheit und Zukunft, sie ist eine Möglichkeitsform, etwas nah an der Fiktion.

Julia Schoch: Das Vorkommnis. dtv, München 2022. 20 €

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Amerikanische Alpträume

von Jens Steiner

Nach „Die rote Tapferkeitsmedaille“ und „Die tristen Tage von Coney Island“ bringt der Pendragon Verlag in kurzer Abfolge das dritte Buch des amerikanischen Journalisten und Autors Stephen Crane heraus: „Geschichten eines New Yorker Künstlers“. Crane (1871–1900), vor langer Zeit in Vergessenheit geratener Mitbegründer der modernen amerikanischen Literatur, gilt dieser Tage als Wiederentdeckung. Zu verdanken ist dies nicht zuletzt Paul Auster, der kürzlich eine Biografie über den früh Verstorbenen verfasste, die nun ebenfalls auf Deutsch erscheint.

Aus der neuen Sammlung von Prosatexten stechen die Kurzromane „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ und „Georges Mutter“ heraus. Beide sind in der Bowery des ausgehenden 19. Jahrhunderts angesiedelt, einem jener New Yorker Viertel, in denen die Folgen ungehemmter kapitalistischer Industrialisierung am deutlichsten sichtbar wurden. „Maggie …“, einem von Cranes frühesten literarischen Texten, merkt man die Jugendlichkeit des Autors an: die Figurenzeichnung ist oft drastisch, zwischen dem Schwarz und dem Weiß fehlen manche Grautöne. Die Tradition, auf die Crane sich in diesem Text bezieht, ist die slum fiction. Diese stellte die Welt der Unterschicht als exotisches Universum dar, das den Hintergrund für erbauende Geschichten zuhanden von Mittelschichts-Lesern abgab. Auch bei Crane, der selbst aus der Mittelschicht stammte, macht sich diese romantisierende Faszination bemerkbar. Und doch will er mehr als seine Vorgänger. Er veranschaulicht die Unerbittlichkeit damaliger proletarischer Schicksale, ohne in Rührseligkeit abzugleiten. Gnadenlos und in bewundernswerter Knappheit zeichnet er Maggies Weg nach, die in einer zerrütteten Familie aufwächst und als naiv Liebende an der Selbstsucht des von ihr Angebeteten zugrunde geht. Die tragische Ironie der Geschichte will es, dass sie in der Prostitution landet und letztlich – auf eine nur angedeutete Weise – den Tod findet.

Der zweite längere Text, „Georges Mutter“, der mehr von George selbst als von seiner Mutter handelt, ist ambivalenter, raffinierter. George, ein einfacher Arbeiter, findet Anschluss an einen Freundeskreis, der die Abende bei gepflegtem Saufen und philosophischen Gesprächen totschlägt. Crane hält Georges Entwicklung in der Schwebe, verrät nicht, ob dieser Freundeskreis den Helden aus dem bedrückenden Milieu herausheben wird oder im Gegenteil seinen Untergang besiegelt. In den drei Jahren seit „Maggie …“ ist Crane reifer geworden, feiner in der Figurenzeichnung. Schön und todtraurig auch das Bindeglied zwischen den beiden Texten: George und Maggie wohnen im gleichen Haus, sie begegnen sich ab und zu flüchtig – doch diesmal ist George der unglücklich Liebende.

Diese zwei Kurzromane und die weiteren in diesem Band versammelten Texte sind Zeugnis einer längst vergangenen Epoche. Unerbittlich war die gesellschaftliche Sortierarbeit des frühen Kapitalismus. Wer in die Armut hineingeboren war, hatte kaum eine Möglichkeit ihr zu entrinnen. Diese Welt schildert Crane in teils drastischen, teils federleicht tänzelnden Worten. Zugleich hält er sich als Dokumentarist im Hintergrund und gibt mit feinem Gehör die Sprache der Menschen aus der Bowery wieder: flapsig, brutal und dennoch von einer ungeheuren Lebenslust. Damit sind diese Texte auch ein beeindruckendes Zeugnis eines leider viel zu früh verstorbenen literarischen Talents.

Stephen Crane: Geschichten eines New Yorker Künstlers. Romane und Geschichten, Pendragon Verlag, Bielefeld 2022. 24 €

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Der nachhaltige Schrecken der Ruinen

Zwei Schriftsteller bereisen Deutschland nach dem 2. Weltkrieg

von Jürgen Reuß

Jetzt, wo durch den russischen Einmarsch in der Ukraine  Krieg in Europa wieder näher gerückt ist, ist ein guter Moment, mal wieder genauer hinzusehen, was ein Krieg anrichtet. Wir haben uns angewöhnt, ihn als etwas zu betrachten, das andere anderswo machen, vorzugsweise auf einem anderen Kontinent. Dabei ist es gar nicht so lange her, dass wir selbst einen Krieg angezettelt haben und auch Schauplatz seiner Folgen waren. Zwei Schriftsteller haben sich damals vor Ort mit eigenen Augen ein Bild vom Land der Kriegshetzer nach der Niederlage gemacht. Beide kamen im Auftrag einer großen Zeitung ihres Heimatlandes.

Der eine, George Orwell, folgte Ende März, Anfang April 1945 den alliierten Truppen von Paris nach Köln und dann nach Nürnberg. Vor ihm oft noch die letzten Scharmützel mit versprengten Unbeirrbaren. In der damaligen englischen Kolonie Bengalen geboren meldet er sich nach Eliteausbildung am Eton College zum Polizeidienst in Burma, hatte nach fünf Jahren genug von den Praktiken einer Kolonialmacht, schlug sich in Europa mit Jobs als angehender Schriftsteller durch, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten, wurde verwundet und etablierte sich als Journalist. Zwar hatte er zwischenzeitlich schon einige Bücher, darunter auch Animal Farm veröffentlicht, war aber als Schriftsteller noch nicht richtig wahrgenommen worden.

Und so reist er im Grunde als Kriegsreporter mit kolonialgeschultem Blick durch das in Trümmern liegende Deutschland. Politische Erwägungen zu künftigen Machtkonstellationen wechseln mit recherchierten Fakten zu Wanderbewegungen der unglaublichen Masse an Displaced Persons, Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern, die er dann ins Verhältnis zur nicht vorhandenen Infrastruktur setzt. Darin eingebettet Begegnungen mit Menschen vor Ort, das Erstaunen darüber, dass die deutsche Bevölkerung so gar nicht der eigenen Propaganda der hochgewachsenen, blonden, arroganten Arier entspricht.

Einerseits noch ganz der imperialistischen Perspektive verpflichtet, die das Machtvakuum schon mit der sich abzeichnenden neuen europäischen Ordnung füllt. Andererseits der spürbare Schock, sich an Orten zu bewegen, an denen die Folgen von Krieg noch mal ganz anders spürbar sind. In London gab es auch Bombenangriffe, im spanischen Bürgerkrieg auch Gemetzel, aber derartig komplette Zerstörung hatte Orwell noch nicht gesehen. Alles war in einem so erbärmlichen Zustand, dass ihm das brutale Vorgehen der Franzosen im Vergleich zu Briten und Amerikanern seltsam unverhältnismäßig vorkommt. Symptomatisch dafür der Belgier, der aus seinem Hass auf die „Boches“ keinen Hehl machte, der aber, nachdem er die ersten Leichen junger deutscher Männer passiert hatte, dem Deutschen, bei dem er einquartiert war, Kaffee schenkte. Angesichts der Zerstörung war „die ganze Vorstellung von Rache und Bestrafung nur ein kindischer Tagtraum“, etwas, „das man sich vorstellt, solange man ohnmächtig ist“.

Der andere ist der junge schwedische Schriftsteller Stig Dagerman. Im Herbst 1946, rund ein Jahr nach Orwell, schickt die schwedische Abendzeitung Expressen den 23-Jährigen auf eine zweimonatige Reportagereise durch Deutschland. Dagerman hatte im Jahr zuvor mit seinem Debütroman Die Schlange für Aufsehen gesorgt und war mit einer deutschen Frau, Annemarie Götze, verheiratet. Götze war mit ihren Eltern 1934 aus Deutschland geflohen und mit Umweg über den spanischen Bürgerkrieg schließlich in Schweden gelandet. Die Vertrautheit mit der Perspektive von Deutschen, die keine Nazis waren, dazu deren Kontakte in ihr Heimatland ermöglichten Dagerman, sich abseits vorgebahnter journalistischer Pfade und Priorisierungen durch die Besatzungszonen bewegen. Überall in Deutschland landeten täglich Zugladungen von Flüchtlingen. Niemand wollte sie, alle hatten Hunger, Städte keine Kapazitäten. In den Trümmerstädten war glücklich, wer einen bewohnbaren Keller für die Familie fand, auch wenn das Wasser dort bis zu den Knöcheln stand. Alles, was Orwell im Frühjahr 1945 vorausgesehen hatte, war eingetreten.

War diese Wucht der Niederlage nicht eine gerechte Strafe für einen Nation, die so viele Millionen Tote zu verantworten hatte? Dagerman registrierte sehr wohl, dass ein jüdischer Entlastungszeuge für ein Entnazifizierungsverfahren 100 Mark kostete, und es die gleichen Chancen für alle in einer fiktiven Stunde Null nie gab. Er war angewidert vom selbstgerecht idealisierten Nationalstolz und dem propagandistischen Duktus von Politikern wie Kurt Schumacher. Aber an einem Punkt meldete er Skepsis an: Was bedeutete es, wenn Menschen, die halbverhungert durch zerstörte Städte irren, auf die Frage, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen war, mit Ja antworteten?

Für Dagerman war Hunger ein ebenso schlechter Pädagoge wie Krieg. Er sah, wie die Niederlage der unter dem Hakenkreuz aufgewachsenen Jugend eine „enttäuschte, verhängnisvoll vorurteilsvolle Einstellung zu jeglichem demokratischen Organisationsleben“ zur Folge hatte. Demokratie wurde zur Sache der alten Leute, die ihrer eigene Nazijugend nicht mehr trauten. Den Jungen blieben nur zwei Alternativen: Räuberbanden und Schwarzmarkt.

Zwei Fragen schließen sich nach der Lektüre von Orwell und Dagerman an:

Ist das tatsächlich dasselbe Land, in dem heute niemand Hunger, jede Stadt Kapazitäten hat, und in dem ein Häuflein lautstarker Kraftloser, das bei dem Satz „Wir schaffen das“ anfängt, panisch um sich zu schlagen, das Potenzial hat Staatskrisen auszulösen?

Würde Thomas Mann, der nur fünf Jahre nach dem großen Gemetzel des 1. Weltkriegs die Weimarer Republik gegen Militarismus, autoritäres Denken und Nationalismus verteidigte, womöglich auch heute wieder auf junge Leute treffen können, die ihn ausbuhen und, wie Orwell mit Schaudern vermerkte, auf die Beschwörung „Bleibt am Leben!“ faktisch zurückschreien: „Wir wollen getötet werden!“?

George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Mit einem Nachwort von Volker Ullrich. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. C. H. Beck, München 2021. 16 €

Stig Dagerman: Deutscher Herbst. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz, Berlin 2021. 22 €

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