Der nachhaltige Schrecken der Ruinen
Zwei Schriftsteller bereisen Deutschland nach dem 2. Weltkrieg
von Jürgen Reuß
Jetzt, wo durch den russischen Einmarsch in der Ukraine Krieg in Europa wieder näher gerückt ist, ist ein guter Moment, mal wieder genauer hinzusehen, was ein Krieg anrichtet. Wir haben uns angewöhnt, ihn als etwas zu betrachten, das andere anderswo machen, vorzugsweise auf einem anderen Kontinent. Dabei ist es gar nicht so lange her, dass wir selbst einen Krieg angezettelt haben und auch Schauplatz seiner Folgen waren. Zwei Schriftsteller haben sich damals vor Ort mit eigenen Augen ein Bild vom Land der Kriegshetzer nach der Niederlage gemacht. Beide kamen im Auftrag einer großen Zeitung ihres Heimatlandes.
Der eine, George Orwell, folgte Ende März, Anfang April 1945 den alliierten Truppen von Paris nach Köln und dann nach Nürnberg. Vor ihm oft noch die letzten Scharmützel mit versprengten Unbeirrbaren. In der damaligen englischen Kolonie Bengalen geboren meldet er sich nach Eliteausbildung am Eton College zum Polizeidienst in Burma, hatte nach fünf Jahren genug von den Praktiken einer Kolonialmacht, schlug sich in Europa mit Jobs als angehender Schriftsteller durch, kämpfte im spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten, wurde verwundet und etablierte sich als Journalist. Zwar hatte er zwischenzeitlich schon einige Bücher, darunter auch Animal Farm veröffentlicht, war aber als Schriftsteller noch nicht richtig wahrgenommen worden.
Und so reist er im Grunde als Kriegsreporter mit kolonialgeschultem Blick durch das in Trümmern liegende Deutschland. Politische Erwägungen zu künftigen Machtkonstellationen wechseln mit recherchierten Fakten zu Wanderbewegungen der unglaublichen Masse an Displaced Persons, Flüchtlingen und Kriegsheimkehrern, die er dann ins Verhältnis zur nicht vorhandenen Infrastruktur setzt. Darin eingebettet Begegnungen mit Menschen vor Ort, das Erstaunen darüber, dass die deutsche Bevölkerung so gar nicht der eigenen Propaganda der hochgewachsenen, blonden, arroganten Arier entspricht.
Einerseits noch ganz der imperialistischen Perspektive verpflichtet, die das Machtvakuum schon mit der sich abzeichnenden neuen europäischen Ordnung füllt. Andererseits der spürbare Schock, sich an Orten zu bewegen, an denen die Folgen von Krieg noch mal ganz anders spürbar sind. In London gab es auch Bombenangriffe, im spanischen Bürgerkrieg auch Gemetzel, aber derartig komplette Zerstörung hatte Orwell noch nicht gesehen. Alles war in einem so erbärmlichen Zustand, dass ihm das brutale Vorgehen der Franzosen im Vergleich zu Briten und Amerikanern seltsam unverhältnismäßig vorkommt. Symptomatisch dafür der Belgier, der aus seinem Hass auf die „Boches“ keinen Hehl machte, der aber, nachdem er die ersten Leichen junger deutscher Männer passiert hatte, dem Deutschen, bei dem er einquartiert war, Kaffee schenkte. Angesichts der Zerstörung war „die ganze Vorstellung von Rache und Bestrafung nur ein kindischer Tagtraum“, etwas, „das man sich vorstellt, solange man ohnmächtig ist“.
Der andere ist der junge schwedische Schriftsteller Stig Dagerman. Im Herbst 1946, rund ein Jahr nach Orwell, schickt die schwedische Abendzeitung Expressen den 23-Jährigen auf eine zweimonatige Reportagereise durch Deutschland. Dagerman hatte im Jahr zuvor mit seinem Debütroman Die Schlange für Aufsehen gesorgt und war mit einer deutschen Frau, Annemarie Götze, verheiratet. Götze war mit ihren Eltern 1934 aus Deutschland geflohen und mit Umweg über den spanischen Bürgerkrieg schließlich in Schweden gelandet. Die Vertrautheit mit der Perspektive von Deutschen, die keine Nazis waren, dazu deren Kontakte in ihr Heimatland ermöglichten Dagerman, sich abseits vorgebahnter journalistischer Pfade und Priorisierungen durch die Besatzungszonen bewegen. Überall in Deutschland landeten täglich Zugladungen von Flüchtlingen. Niemand wollte sie, alle hatten Hunger, Städte keine Kapazitäten. In den Trümmerstädten war glücklich, wer einen bewohnbaren Keller für die Familie fand, auch wenn das Wasser dort bis zu den Knöcheln stand. Alles, was Orwell im Frühjahr 1945 vorausgesehen hatte, war eingetreten.
War diese Wucht der Niederlage nicht eine gerechte Strafe für einen Nation, die so viele Millionen Tote zu verantworten hatte? Dagerman registrierte sehr wohl, dass ein jüdischer Entlastungszeuge für ein Entnazifizierungsverfahren 100 Mark kostete, und es die gleichen Chancen für alle in einer fiktiven Stunde Null nie gab. Er war angewidert vom selbstgerecht idealisierten Nationalstolz und dem propagandistischen Duktus von Politikern wie Kurt Schumacher. Aber an einem Punkt meldete er Skepsis an: Was bedeutete es, wenn Menschen, die halbverhungert durch zerstörte Städte irren, auf die Frage, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen war, mit Ja antworteten?
Für Dagerman war Hunger ein ebenso schlechter Pädagoge wie Krieg. Er sah, wie die Niederlage der unter dem Hakenkreuz aufgewachsenen Jugend eine „enttäuschte, verhängnisvoll vorurteilsvolle Einstellung zu jeglichem demokratischen Organisationsleben“ zur Folge hatte. Demokratie wurde zur Sache der alten Leute, die ihrer eigene Nazijugend nicht mehr trauten. Den Jungen blieben nur zwei Alternativen: Räuberbanden und Schwarzmarkt.
Zwei Fragen schließen sich nach der Lektüre von Orwell und Dagerman an:
Ist das tatsächlich dasselbe Land, in dem heute niemand Hunger, jede Stadt Kapazitäten hat, und in dem ein Häuflein lautstarker Kraftloser, das bei dem Satz „Wir schaffen das“ anfängt, panisch um sich zu schlagen, das Potenzial hat Staatskrisen auszulösen?
Würde Thomas Mann, der nur fünf Jahre nach dem großen Gemetzel des 1. Weltkriegs die Weimarer Republik gegen Militarismus, autoritäres Denken und Nationalismus verteidigte, womöglich auch heute wieder auf junge Leute treffen können, die ihn ausbuhen und, wie Orwell mit Schaudern vermerkte, auf die Beschwörung „Bleibt am Leben!“ faktisch zurückschreien: „Wir wollen getötet werden!“?
George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Mit einem Nachwort von Volker Ullrich. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. C. H. Beck, München 2021. 16 €
Stig Dagerman: Deutscher Herbst. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Guggolz, Berlin 2021. 22 €
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