Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

in der neuen Ausgabe unseres Newsletters stellen wir Ihnen den Roman von James Baldwin Ein anderes Land, in der Neuübersetzung von Miriam Mandelkow, vor. Für Baldwin war das Private immer auch politisch. Das trifft auch auf das Romandebüt von  Tomasz Jedrowski, der von einer homosexuellen Liebe in Polen der 80er Jahre erzählt, und für den „Pandemieroman“ von Andreas Lehmann, in dem sich vermeintliche Gewissheiten auflösen, zu.

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Unbeschwertheit und Erniedrigung


Tomasz Jedrowski erzählt fein nuanciert eine bittere Geschichte

von Iris Wolff

Tomasz Jedrowski versteht es, Gefühle zu beschreiben. Wir alle kennen das zeitweilige Unvermögen, auszudrücken, wie es uns geht. Zwischen gut und schlecht gibt es unzählige, feine Nuancen. Wie viele davon kann man benennen? Wie viele kann man überhaupt wahrnehmen? Der Roman Im Wasser sind wir schwerelos erzählt die Geschichte einer homosexuellen Liebe, erinnernd, mit schonungsloser Ehrlichkeit. Der Erzähler weiß, dass Hoffnungen und Wünsche immer auch eine Kehrseite haben. Sie liegen „zwischen Erfüllung und dem Abgrund der Ungewissheit“.

Bezeichnenderweise ist es ein Roman, James Baldwins Giovannis Zimmer, der dem Protagonisten Ludwik den Mut gibt, sich seine Liebe zu Janusz einzugestehen. Doch im Polen der Achtzigerjahre kann ihre Beziehung, die einem unerschöpflichen Durst gleicht, nicht offen gelebt werden. Die Dramatik der Geschichte ergibt sich aus diesem historischen Kontext und gipfelt in den unterschiedlichen politischen Einstellungen der beiden Protagonisten: Es gibt die Möglichkeit das Land zu verlassen oder sich mit dem System zu arrangieren – was jedoch bedeutet, seine Ideale zu verkaufen. Ludwik entscheidet sich für die Wahrheit und verlässt das Land. Aus seinem New Yorker Exil schreibt er seiner großen Liebe einen Brief, vielleicht nur in Gedanken.

Die Sprache, in der erzählt bzw. erinnert wird, macht die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit der Liebenden, aber auch die Erniedrigung und Verleugnung deutlich, die dieses politische System ihnen abverlangt.

Tomasz Jedrowski ist mehreren Sprachen und Kulturen zugehörig. Als Kind polnischer Eltern ist er in Westdeutschland aufgewachsen, er studierte in Cambridge, inzwischen lebt er in Paris. Er schreibt aus einer Haltung der Offenheit und mit dem Mut, Motive und Hintergründe für menschliches Handeln – auch für Versagen und Scheitern – auszuloten. Er geht in seinem Debüt der Frage nach, wie viel man für jemanden, den man liebt, aufzugeben bereit ist.

Manchmal sind die sprachlichen Bilder und Vergleiche gewöhnungsbedürftig. Wenn sich das Verlangen wie ein Wolf aus der Nacht schält, oder sich Erinnerungen wie Zuckerwürfel im Sommerregen auflösen. Es sind andere Bilder, die unter die Haut gehen, im Gedächtnis bleiben: Wie Ludwik zusammen mit seiner Mutter und seiner Großmutter heimlich Radio Freies Europa hört; die schillernde Gegenwelt einiger wohlhabenden Parteibonzen; die unbeschwerten Tage der beiden Liebenden an einem See in den Masuren; es ist das Bild zweier Körper auf dem Waldboden, das in seiner Unerbittlichkeit und Härte letztlich die Schwerelosigkeit aufhebt.

Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 221 Seiten, 23 Euro

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Scham und Schuld


James Baldwins Roman Ein anderes Land

von Jürgen Reuß

Bei Baldwin ist das Private immer auch das Politische. Das ist kein Wunschzustand. Aber es ist unvermeidlich, umso mehr, wenn man als Schwarzer in einer von Weißen beherrschten Welt lebt. Dieses Farbenregime zerstört das, wonach die Begegnung im Privaten sucht und sich sehnt. Auch für die Weißen, aber wesentlich unerbittlicher für die, die nicht über die Definitionsmacht verfügen. In der gerade erschienenen Neuübersetzung von Another Country, Ein anderes Land lässt Baldwin eine der weißen Hauptpersonen des Romans, Vivaldo, mit dem festgefügten Farbenspiel hadern: „Nicht vieles auf der Welt war wirklich schwarz, nicht mal die Nacht, nicht mal die Minen. Und Licht war auch nicht weiß.“ Aber was nützt es, wenn diese physikalische Tatsache nicht zu einer politischen, sozialen, privaten Tatsache wird?

Baldwin schreibt dagegen an, lässt seine Protagonisten in unermüdlichen Reigen die starren Schablonen aufbrechen, ringt mit seinen unglaublichen literarischen Mitteln anderen Konstellation jeden möglichen Funken auf ein anderes Land, ein anderes Leben, eine andere Zukunft ab. Und es schlagen tatsächlich wunderbar viele Funken aus diesem Buch, wenn man bedenkt, dass es Ende der 50er-Jahre geschrieben und 1962 erschienen ist. Aber nie verrät Baldwin dabei den realen Kampf, nicht nur um Civil Rights. Das wärmende utopische Feuer seiner Romane entzündet sich im Gegenteil gerade an der Unermüdlichkeit, mit der seine Protagonisten nie nachlassen, ihr Privates auch als Auflehnung gegen das Machtspiel des Politischen zu verstehen.

Dabei beginnt alles mit einem Scheitern. Der Schwarze Jazzmusiker Rufus begegnet der weißen Südstaatlerin Leona. Und so sehr sie einander brauchen und so viel sie einander geben können, einem können sie nicht entkommen: „Niemand würde Vivaldo so ansehen, wie sie jetzt Rufus ansahen, noch würden sie jemals die Frau so ansehen wie jetzt Leona. Die schäbigste Hure von Manhattan war sicher, solange sie Vivaldo am Arm hatte. Denn Vivaldo war weiß.“

Ein anderes Land ist in gewisser Weise die Fortführung der Liebesgeschichte von Beale Street Blues. Schien es dem jungen Pärchen dort von Harlem aus, dass das liberalere Greenwich Village vielleicht ein Refugium bieten könnte, räumt Baldwin nun mit solchen Naivitäten auf. Rufus und Leona haben keine Chance. Selbst wenn die Umwelt sie in Ruhe ließe, was sie nicht tut, entlässt sie auch die eigene Geschichte nicht aus ihrem Griff. Am Ende prügelt Rufus Leona halb tot und begeht Selbstmord. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte, sondern der Anfang von einer Reihe von anderen, die es auf ihre Weise noch einmal versuchen. Ein Reigen der Auflehnung gegen festgeschriebene Rollen beginnt. Rufus‘ Freund Vivaldo ringt um eine Beziehung mit Rufus‘ Schwester Ida. Freundin Cass bricht aus ihrer Ehe mit einem Schriftsteller, der gerade kommerziellen Erfolg hat, aus und fängt eine Affäre mit Rufus‘ Jugendfreund und -liebhaber Eric an.

Eric wiederum ist so etwas wie die zweite Chance für den weißen Protagonisten von Giovannis Zimmer, der damals seinen Lover in Paris im Stich lässt und vermutlich ins heterosexuelle, elterliche Amerika zurückkehrt. Aber Eric ist anders. Er hat sich für seinen französischen Partner Yves entschieden, ist nur vor ihm in die USA zurückgekehrt, um seine Schauspielerkarriere voranzutreiben. Zwar lässt er sich auf eine Affäre mit der verheirateten Cass ein, verbringt auch eine Nacht mit Vivaldo, wird aber bei Yves bleiben. Virtuos bricht Baldwin mit allen Schablonen, weiß-Schwarz, Homo-Hetero, Alters- und sozialen Konventionen – auch mit literarischen, indem er explizite Sexszenen und andere Körperlichkeiten mitnichten umschwurbelt.

Immer ist das Scheitern präsent, wie auch anders, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht ändern. Und doch ist da dieser Mut seiner Protagonisten, immer wieder etwas anzufangen, das sie überfordert, dieser Wille, mit den Verhältnissen zu ringen, auch wenn sie übermächtig erscheinen. Am Ende sind sie wie erschöpfte Kinder: „Ihre langen Finger strichen über seinen Rücken, und er begann, langsam, mit einem schrecklichen Würgen, zu weinen, denn sie strich die Unschuld aus ihm heraus.“

Ist es gut, wenn sich Baldwins Romane lesen, als wären sie für heute geschrieben? Eins steht jedenfalls fest: Baldwins Werke nicht zu kennen, heißt Wesentliches über das Private, Politische und Literarische zu verpassen.

Miriam Mandelkows Übersetzung und das Nachwort von René Aguigah sind ein weiteres Argument, Ein anderes Land jetzt zu lesen.

James Baldwin: Ein anderes Land. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. Dtv Verlag, München 2021. 576 Seiten, 25 Euro

 

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Balancierteller


Andreas Lehmann erzählt von Entfremdung und Hoffnung in der Krise

von Jens Steiner

Ist es ein Anfang? Ist es ein Ende? Oder vielmehr ein Schweben in der Mitte, im Auge des Orkans? Der Zustand, in dem sich die Hauptfigur in Andreas Lehmanns zweitem Roman «Schwarz auf weiß» befindet, hat etwas von alldem zugleich. Das Protokoll dieses Zustands ist nüchtern formuliert, hier und da mit milden Abschattungen von Business-und-Selbstoptimierungs-Sprech durchsetzt, und doch herrscht im Kopf des Lesers die reine Haltlosigkeit: Alles kann in jedem Moment auf jede Seite kippen. Die Lektüre dieses kurzen Romans mutet an wie der Versuch, sich auf einem dieser Balancierteller zu halten, die auf Spielplätzen herumstehen.

Die Ausgangslage lässt sich dennoch festzurren: Martin Oppenländer hat seine gut bezahlte und sichere Anstellung aufgegeben, um sich als Projektmanager selbständig zu machen. Doch just in dem Augenblick, als es losgehen soll, legt sich der Corona-Lockdown wie eine Glasglocke über ihn, nichts geht mehr. Er sitzt in seiner Wohnung, wartet auf Aufträge, darauf, dass sein Leben eine Richtung nimmt – vergeblich. In sein Warten und Lauschen hinein klingelt sich jemand aus einer Vergangenheit. Die Frau am Telefon nennt sich Rebecca Wieland, man habe sich vor Jahren auf einem Kongress getroffen, Abendessen mit Kollegen, dann zu zweit in diese Bar auf einen Martini, na, klingelt’s? Martin Oppenländer hat keine Erinnerung, er weiß nicht, wie er mit der Frau umgehen soll. Es läge nahe, diesen Faden fallenzulassen, doch Andreas Lehmann hat die Chuzpe, dieses scheinbar unbrauchbare Ende festzuhalten und weiterzuerzählen. Man denkt sich als Leser, dass es jetzt losgeht, dass sich bestimmt bald alles sortiert, doch nein, auch diese Geschichte bleibt wie auf einer Nadelspitze stehen. Rebecca Wielands Anrufe kommen immer wieder, obwohl Martin der Frau weiterhin kaum einen Grund gibt, sich wieder zu melden, und das Gespräch setzt sich für beide Seiten auf eher unangenehme Weise fort.

Andreas Lehmann hat nicht den ersten Pandemieroman geschrieben, er bietet auch nicht unbedingt die zwingende literarische Analyse zu Corona und den sozialen Folgen, auf die manche schon warten mögen. Und doch ist das Ergebnis sehr bemerkenswert. Entstanden ist ein Text über die Scham desjenigen, der den sinnstiftenden Zusammenhang einer festen Stelle zurückgelassen hat – um in seinem Homeoffice zu sitzen und dort pausenlos nach Sichtbarkeit zu gieren. «Als er hineingeht, steht er noch lange am Fenster, bevor er sich schlafen legt. Der seltsame Impuls, sich zeigen zu wollen – als jemand, der sich versteckt. Der täglich sich erneuernde Wunsch, auf der Welt zu sein», heißt es an einer Stelle. Der Wunsch wächst an zu bedrohlicher Größe und führt das Romangeschehen letztlich doch noch in die erwartete Irrsinnskammer. Kurz und köstlich, Martin Oppenländers Entgleisung. Dann wie aus dem Nichts ein ganz anderer Anruf, und der Wahn platzt wie eine Seifenblase, und auch Rebecca Wieland ist auf einmal nicht mehr da, und Martin Oppenländers Leben geht weiter.

Homeoffice-Klaustrophobie trifft in diesem Roman auf die Haltlosigkeit jener, die alles auf die Karte Beruf setzen und mit sozialen Beziehungen außerhalb der Kategorie «Arbeitskollegin» irgendwann nicht mehr so richtig klar kommen. Diese Verschränkung hat eine Dringlichkeit, mit der Andreas Lehmann nicht wenige seiner Leserinnen und Leser auf dem falschen Bein erwischen wird. Kein Grund, die Finger von dem Roman zu lassen. Im Gegenteil. Bücher sollen Balancierteller, Lesen soll eine Übung in Haltlosigkeit sein!

Andreas Lehmann: Schwarz auf Weiß. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2021. 176 Seiten, 20 Euro

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