Scham und Schuld
James Baldwins Roman Ein anderes Land
von Jürgen Reuß
Bei Baldwin ist das Private immer auch das Politische. Das ist kein Wunschzustand. Aber es ist unvermeidlich, umso mehr, wenn man als Schwarzer in einer von Weißen beherrschten Welt lebt. Dieses Farbenregime zerstört das, wonach die Begegnung im Privaten sucht und sich sehnt. Auch für die Weißen, aber wesentlich unerbittlicher für die, die nicht über die Definitionsmacht verfügen. In der gerade erschienenen Neuübersetzung von Another Country, Ein anderes Land lässt Baldwin eine der weißen Hauptpersonen des Romans, Vivaldo, mit dem festgefügten Farbenspiel hadern: „Nicht vieles auf der Welt war wirklich schwarz, nicht mal die Nacht, nicht mal die Minen. Und Licht war auch nicht weiß.“ Aber was nützt es, wenn diese physikalische Tatsache nicht zu einer politischen, sozialen, privaten Tatsache wird?
Baldwin schreibt dagegen an, lässt seine Protagonisten in unermüdlichen Reigen die starren Schablonen aufbrechen, ringt mit seinen unglaublichen literarischen Mitteln anderen Konstellation jeden möglichen Funken auf ein anderes Land, ein anderes Leben, eine andere Zukunft ab. Und es schlagen tatsächlich wunderbar viele Funken aus diesem Buch, wenn man bedenkt, dass es Ende der 50er-Jahre geschrieben und 1962 erschienen ist. Aber nie verrät Baldwin dabei den realen Kampf, nicht nur um Civil Rights. Das wärmende utopische Feuer seiner Romane entzündet sich im Gegenteil gerade an der Unermüdlichkeit, mit der seine Protagonisten nie nachlassen, ihr Privates auch als Auflehnung gegen das Machtspiel des Politischen zu verstehen.
Dabei beginnt alles mit einem Scheitern. Der Schwarze Jazzmusiker Rufus begegnet der weißen Südstaatlerin Leona. Und so sehr sie einander brauchen und so viel sie einander geben können, einem können sie nicht entkommen: „Niemand würde Vivaldo so ansehen, wie sie jetzt Rufus ansahen, noch würden sie jemals die Frau so ansehen wie jetzt Leona. Die schäbigste Hure von Manhattan war sicher, solange sie Vivaldo am Arm hatte. Denn Vivaldo war weiß.“
Ein anderes Land ist in gewisser Weise die Fortführung der Liebesgeschichte von Beale Street Blues. Schien es dem jungen Pärchen dort von Harlem aus, dass das liberalere Greenwich Village vielleicht ein Refugium bieten könnte, räumt Baldwin nun mit solchen Naivitäten auf. Rufus und Leona haben keine Chance. Selbst wenn die Umwelt sie in Ruhe ließe, was sie nicht tut, entlässt sie auch die eigene Geschichte nicht aus ihrem Griff. Am Ende prügelt Rufus Leona halb tot und begeht Selbstmord. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte, sondern der Anfang von einer Reihe von anderen, die es auf ihre Weise noch einmal versuchen. Ein Reigen der Auflehnung gegen festgeschriebene Rollen beginnt. Rufus‘ Freund Vivaldo ringt um eine Beziehung mit Rufus‘ Schwester Ida. Freundin Cass bricht aus ihrer Ehe mit einem Schriftsteller, der gerade kommerziellen Erfolg hat, aus und fängt eine Affäre mit Rufus‘ Jugendfreund und -liebhaber Eric an.
Eric wiederum ist so etwas wie die zweite Chance für den weißen Protagonisten von Giovannis Zimmer, der damals seinen Lover in Paris im Stich lässt und vermutlich ins heterosexuelle, elterliche Amerika zurückkehrt. Aber Eric ist anders. Er hat sich für seinen französischen Partner Yves entschieden, ist nur vor ihm in die USA zurückgekehrt, um seine Schauspielerkarriere voranzutreiben. Zwar lässt er sich auf eine Affäre mit der verheirateten Cass ein, verbringt auch eine Nacht mit Vivaldo, wird aber bei Yves bleiben. Virtuos bricht Baldwin mit allen Schablonen, weiß-Schwarz, Homo-Hetero, Alters- und sozialen Konventionen – auch mit literarischen, indem er explizite Sexszenen und andere Körperlichkeiten mitnichten umschwurbelt.
Immer ist das Scheitern präsent, wie auch anders, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht ändern. Und doch ist da dieser Mut seiner Protagonisten, immer wieder etwas anzufangen, das sie überfordert, dieser Wille, mit den Verhältnissen zu ringen, auch wenn sie übermächtig erscheinen. Am Ende sind sie wie erschöpfte Kinder: „Ihre langen Finger strichen über seinen Rücken, und er begann, langsam, mit einem schrecklichen Würgen, zu weinen, denn sie strich die Unschuld aus ihm heraus.“
Ist es gut, wenn sich Baldwins Romane lesen, als wären sie für heute geschrieben? Eins steht jedenfalls fest: Baldwins Werke nicht zu kennen, heißt Wesentliches über das Private, Politische und Literarische zu verpassen.
Miriam Mandelkows Übersetzung und das Nachwort von René Aguigah sind ein weiteres Argument, Ein anderes Land jetzt zu lesen.
James Baldwin: Ein anderes Land. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. Dtv Verlag, München 2021. 576 Seiten, 25 Euro
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