Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

in der Herbstausgabe der Lesezeit stellt Ihnen der Lyriker Walle Sayer den neuen Lyrikband Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text seines Kollegen Ulrich Koch vor.

Für Ulrich Koch ist das Banale und Wunderliche des Alltags der Ausgangspunkt für seine existenzielle Lyrik.

In Hansjörg Schertenleibs neuem Roman Offene Türen, offene Fenster geraten ein alter weißer Mann und eine junge Studentin,

auf eine Bühne, auf die sie so nicht wollten. Sylvain Tesson wiederum erzählt in Der Schneeleopard von der Suche nach dem Schneeleoparden an der Seite des Fotografen Vincent Munier. Das Warten auf den Leoparden wird für ihn zu einer existentiellen Erfahrung.

Wir wünschen Ihnen bereichernde Lektüre.

Ihre Buchhandlung Schwarz

Dorfstraßen und Kuhweiden als Bühnen des Alltags

 

von Walle Sayer

Lang ist ein kurzes Wort, stellte Ulrich Koch einmal fest, dessen neue Gedichte unter dem Titel „Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“, im Verlag Jung und Jung erschienen sind.

Der Dichter Ulrich Koch, geboren 1966 in Winsen an der Luhe, lebt als Geschäfts­führer einer Zeit­arbeits­firma, die Fach­personal für die Altenpflege vermittelt, in Radenbeck bei Lüneburg. Er debütierte 1995 auf Empfehlung Arnold Stadlers im Residenz Verlag. Seither erschienen seine Gedichte in mehreren Einzelbänden sowie in Anthologien, Literaturzeitschriften und Zeitungen (u. a. manuskripte, BELLA triste, Neue Zürcher Zeitung). Sein letzter Gedichtband Selbst in hoher Auflösung stand im Februar 2018 auf Platz 2 der Bestenliste des SWR.

„Seine Erfahrungen in der Arbeitswelt“ sind elementar für sein Schreiben, sei es der Nachtdienst in einem Altersheim, die Arbeit auf dem Bau, in einem Callcenter, oder die derzeitige in der Personalvermittlung für einen Pflegedienst. Über diesen Entstehungshintergrund seiner Gedichte, die Wechselwirkung von Leben und Schreiben, von Alltag und Berufsleben, notierte er einmal: Mein Schreibleben ist meinen Berufsleben abgenötigt, das ich damit erpresse, alles auszupacken, was ich nicht mehr von mir weiß. Morgens schlafe ich in der Bahn. Am Mittag stehe ich am Bürofenster und sehe den Meisen zu. Abends sitze ich in der Bahn und denke so wie jemand mit Tourette-Syndrom spricht.

Dorfstraßen, abgeerntete Felder, Kuhweiden, Bushaltestellen, Bundesstraßen, Warteschlangen, Vereinsheime, … all das sind für ihn die Bühnen seines Alltags, seines Erlebens, auf denen sich seine Gedichte ereignen. Wo es bei anderen Dichtern seiner Generation um die Poetik geht, interessiert ihn die Poesie. Auf dem Parkplatz in den zitternden Pfützen/ schläft in seiner Ausnüchterungszelle das Meer. Für Ulrich Koch ist das Verwunderliche an der Wirklichkeit, daß sie existiert. Die Protagonisten seiner Gedichte arbeiten seit Jahren in der „Resignatur“, sind „Teilhabenichtse“. Schau mich an, wenn ich mit mir rede, sagt das Ich im Selbstgespräch eines Gedichts. Er übersetzt die Gebärdensprache der Schlafenden. Wird die Zeit eingekreist, hört sich das bei ihm so an: Ich habe meine Jahre wie Halme gekaut. Die leeren Felder weiten seinen Blick. Er schaut auf seine Hände wie auf Tierspuren im Schnee. Zitiert einen verfremdeten Hölderlin: Komm in die Geschlossene, Freund. Ein Park und ein Stück Brot: schon wird für ihn aus einer Handvoll Spatzen eine Erbengemeinschaft. Als ich mich durchgestrichen hatte, konstatiert er, blieb das Gedicht übrig. Auf die Frage, was ein gutes Gedicht ausmache, antwortet er: es müsse „auf unwider­stehlich sanfte Art und Weise traurig machen“.

Das Gedicht, so Ulrich Koch: es ereignet sich für die Dauer dieses einen vergänglichen, vergehenden, vergangenen Augenblicks. In fester Überzeugung oder um ehrlich zu sein, in meiner losen Hoffnung, gibt es Gedichte tatsächlich. Es sind kleine aparte Wesenheiten…

Denn irgendwann erkannte ich das Tagebuchartige eines jeden Tages: Die Form dieser seiner Wesenheiten wirkt manchmal, als setzten sie sich organisch aus den Satzpartikeln, Wahrnehmungssplittern und Epiphaniezeilen seines Notizbuches zusammen zu einem ganz anderen, ureigenen, angereicherten, manchmal auch elegischen Erscheinungsbild von Wirklichkeit. Ihm reicht der Anblick einer Pfütze, um ein Weltgefühl zu formulieren. Das Elementare erklingt bei ihm wie ein anderes Wort für die Leuchtkraft, die seine Sprachbildnisse haben. Wohin bleiben fragt er sich und uns.

Siebzehnter Juli lautet profan ein Gedichttitel in diesem neuen Band, ein schlichtes Datum als Ausgangspunkt oder Verortung für seine Art von Existenzialismus, und so beginnt dieses Gedicht:

Der Schweiß auf der Stirn der Wahrsager

ist getrocknet: Die Gegenwart ist eingetroffen.

Die Hausgeburten der Schwalben sind alle geglückt,

und an den stillen Sommerabenden

scheint das Losgelassene zum Greifen nah. …

 

Ulrich Koch: Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text. Gedichte. Verlag Jung und Jung, 160 Seiten. 18€

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Die Millenials und der alte weiße Mann

 

von Jens Steiner

Müsste man Hansjörg Schertenleibs bisheriges literarisches Schaffen mit zwei knappen Begriffe charakterisieren, wären «Eigensinn» und «Präzision» wohl die naheliegendsten. Seit vierzig Jahren geht der heute im Burgund lebende Schweizer seinen eigenen literarischen Weg und erzählt in stets wachsam beobachtender Sprache von Unangepassten und Suchenden. In seinem neuesten Roman «Offene Fenster, offene Türen» wendet er sich einer Angelegenheit zu, um die es unlängst viel diskursives Gedöns gab: der Geschlechterkampf unter dem Vorzeichen von #metoo. Auch hier agiert Schertenleib nah am Detail und an seinen Figuren und umgeht so die Fußfallen einer teils aus dem Ruder gelaufenen Debatte. Der Auftakt zur Geschichte ist denkbar einfach: Casper Arbenz, 55, Schlagzeuglehrer an einer Jazzschule, hat eine einvernehmliche Affäre mit der 19-jährigen Studentin Juliette Noirot. Die hitzige Viertelstunde wird heimlich gefilmt, die Aufnahme umgehend in die sozialen Netzwerke gespeist. Damit ist die Kugel ins Rollen gebracht.

Casper Arbenz weiß um die Dummheit, die er begangen hat, er weiß, dass er auf keine Nachsicht hoffen kann. Bald wird er von seinem Posten suspendiert, Frau, Freunde und Kollegen wenden sich von ihm ab. Dennoch bleibt die Situation unklar, die Fronten oszillieren. Juliette Noirot ihrerseits erweist sich als Spielernatur, berauscht von ihrer Wirkung auf die Männer, doch nun tut ihr Arbenz leid, zumindest ein bisschen. Treibt eine öffentliche Debatte über einen solch gearteten Fall unweigerlich auf Zuspitzungen und Verhärtungen zu, bleibt Schertenleibs Blick auf seine Figuren analytisch, jedoch nie ohne Empathie.

Geduldig leuchtet der Autor die Effekte des Shitstorms in all seinen Verästelungen aus. Bestechend seine Beobachtungen zum Verhalten städtischer Millenials: Stets haben sie ihr Publikum im Blick, stets denken sie die Folgen ihrer Handlungen und die ihnen zugrundeliegenden Machtverhältnisse mit. Dass der Shitstorm letztlich auch sie selbst treffen könnte, ahnt Juliette Noirot dennoch nicht. Nachdem sich der Wind gegen sie gedreht hat, wägt sie ab, ob sie sich öffentlich positionieren soll: «Muss sie Arbenz anzeigen, um unschuldig dazustehen?» Sie tut es nicht. Arbenz seinerseits stromert durch die Stadt, versackt in seiner Lieblingsbar, die Höllenfahrt erfährt zunehmend Ausschläge ins Absurde und Surreale, was nicht ohne Komik ist.

Jeder Shitstorm lässt irgendwann nach, auch dieser, zumal es tatsächlich keine juristische Anklage gibt. Der Fall fasert irgendwie aus, auch dies nicht unüblich. Doch Schertenleibs Aufmerksamkeit lässt an diesem Punkt nicht nach, und so folgt hier der beinah interessanteste Teil des Romans. Was geschieht mit den Akteuren, wenn eine solche Geschichte allmählich erkaltet? Wohin entschwindet die Aufregungs- und Abwehrenergie, in was verwandelt sie sich? «Offene Fenster, offene Türen» widmet sich den inneren Bewegungen von zwei Menschen, die auf eine Bühne geraten sind, die sie so nicht wollten – wachsam, eigensinnig und präzis.

Hansjörg Schertenleib: Offene Fenster, offene Türen. Kampa Verlag. 256 Seiten, 23€

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Den Schneeleoparden zu sehen, ist wie den Göttern das Feuer zu stehlen

 

von Annette Hoffmann

Die beiden Fotografien in Sylvain Tessons „Der Schneeleopard“ zeigen die Antipoden einer Suche auf. Vor allem wegen der zweiten Abbildung, die ganz ohne die heroische, auf das eigene Habitat herabschauende Pose des ersten Fotos auskommt, muss man das Buch mögen. Sie stammt von Vincent Munier und unterscheidet sich wesentlich von den üblichen Aufnahmen des französischen Naturfotografen. Nur die wenigsten Leserinnen und Leser dürften den Schneeleoparden in dieser Felswüste ohne den Hinweis im Text entdecken. Denn Munier hatte den im Vordergrund sitzenden Falken fokussiert, der Schneeleopard, von dem hinter einem Stein kaum weniger als Ohren und Augen zu sehen ist, war sozusagen Beifang. Munier entdeckte die Katze, als er zwei Monate nach der Reise in das tibetische Hochland zuhause die Fotos sichtete. Zumindest Munier wusste also, worauf er sich einließ, als er 2018 mit seinen drei Reisebegleitern Tesson, seiner Verlobten Marie Amiguet sowie Léo-Pol Jacquot in die Kälte aufbrach: Man ist nicht Herr der Lage und es kann passieren, dass man vom Beobachter zum Beobachteten wird.

Der Schneeleopard ist so etwas wie ein Mythos, gut 5.000 Exemplare dieses extremen Einzelgängers soll es noch im Altaigebirge und im Himalaya geben, bedrängt von Jägern und überhaupt vom Menschen, der selbst in diese unwirtlichen Gebiete vorstößt. Tesson ist nicht der erste, der die Lauer auf den Schneeleoparden zur Literatur macht, sein Buch wurde 2019 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Anfang der 1970er Jahre gingen der Biologe George B. Schaller und der Autor Peter Matthiessen in die nepalesische Dolpo-Region, um das Tier zu beobachten. Für Matthiessen sollte es auch eine Reise sein, um den Tod seiner Frau zu betrauern. Tesson hat für seinen erfolglosen Vorgänger nur wenig Mitleid: „Im Unterschied zu Matthiessen, der die Reise in einem kryptischen Buch verarbeitet hatte – Der Schneeleopard, in dem es zu gleichen Teilen um den tantrischen Buddhismus und um die Evolution der Arten geht ‒, hatte Schaller ihn tatsächlich gesehen. Matthiessen war im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt geblieben.“

Sie selbst sollten den Schneeleoparden vier Mal sehen. Doch auch für Tesson wird das Warten in der Kälte zu einer spirituellen Erfahrung, komisch gebrochen durch die Zumutungen der Kälte in diesem heruntergekühlten Eden und dem offensichtlichen Neid auf die Intimität von Munier und Amiguet in dieser Einöde. Überhaupt cherchez la femme: Die mit Warten langsam verstreichende Zeit lässt dem Autor viel Raum an seine tote Mutter und die verlorene Geliebte zu denken, die der Natur sehr verbunden war. „Dieses Tier, flüchtiges Traumbild, war das Totem der Verschwundenen. Meine verstorbene Mutter und die Frau von den Waldwegen: Jede Erscheinung hatte sie mir zurückgebracht.“ Tessons Denken hat antimoderne Züge, er zitiert Novalis, Nietzsche, Ernst Jünger und Heidegger und beklagt am anderen Ende der Welt mit Blaise Pascal das Unglück, das einhergeht, weil der Mensch nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben kann. Das Gesehene zu bewahren und es zu schützen, kollidiert im unauflöslichen Widerspruch damit, es sehen zu wollen.

Sylvain Tesson: Der Schneeleopard. Aus dem Französischen übersetzt von Nicola Denis. Rowohlt Verlag. 192 Seiten, 20€

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