Dorfstraßen und Kuhweiden als Bühnen des Alltags
von Walle Sayer
Lang ist ein kurzes Wort, stellte Ulrich Koch einmal fest, dessen neue Gedichte unter dem Titel „Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text“, im Verlag Jung und Jung erschienen sind.
Der Dichter Ulrich Koch, geboren 1966 in Winsen an der Luhe, lebt als Geschäftsführer einer Zeitarbeitsfirma, die Fachpersonal für die Altenpflege vermittelt, in Radenbeck bei Lüneburg. Er debütierte 1995 auf Empfehlung Arnold Stadlers im Residenz Verlag. Seither erschienen seine Gedichte in mehreren Einzelbänden sowie in Anthologien, Literaturzeitschriften und Zeitungen (u. a. manuskripte, BELLA triste, Neue Zürcher Zeitung). Sein letzter Gedichtband Selbst in hoher Auflösung stand im Februar 2018 auf Platz 2 der Bestenliste des SWR.
„Seine Erfahrungen in der Arbeitswelt“ sind elementar für sein Schreiben, sei es der Nachtdienst in einem Altersheim, die Arbeit auf dem Bau, in einem Callcenter, oder die derzeitige in der Personalvermittlung für einen Pflegedienst. Über diesen Entstehungshintergrund seiner Gedichte, die Wechselwirkung von Leben und Schreiben, von Alltag und Berufsleben, notierte er einmal: Mein Schreibleben ist meinen Berufsleben abgenötigt, das ich damit erpresse, alles auszupacken, was ich nicht mehr von mir weiß. Morgens schlafe ich in der Bahn. Am Mittag stehe ich am Bürofenster und sehe den Meisen zu. Abends sitze ich in der Bahn und denke so wie jemand mit Tourette-Syndrom spricht.
Dorfstraßen, abgeerntete Felder, Kuhweiden, Bushaltestellen, Bundesstraßen, Warteschlangen, Vereinsheime, … all das sind für ihn die Bühnen seines Alltags, seines Erlebens, auf denen sich seine Gedichte ereignen. Wo es bei anderen Dichtern seiner Generation um die Poetik geht, interessiert ihn die Poesie. Auf dem Parkplatz in den zitternden Pfützen/ schläft in seiner Ausnüchterungszelle das Meer. Für Ulrich Koch ist das Verwunderliche an der Wirklichkeit, daß sie existiert. Die Protagonisten seiner Gedichte arbeiten seit Jahren in der „Resignatur“, sind „Teilhabenichtse“. Schau mich an, wenn ich mit mir rede, sagt das Ich im Selbstgespräch eines Gedichts. Er übersetzt die Gebärdensprache der Schlafenden. Wird die Zeit eingekreist, hört sich das bei ihm so an: Ich habe meine Jahre wie Halme gekaut. Die leeren Felder weiten seinen Blick. Er schaut auf seine Hände wie auf Tierspuren im Schnee. Zitiert einen verfremdeten Hölderlin: Komm in die Geschlossene, Freund. Ein Park und ein Stück Brot: schon wird für ihn aus einer Handvoll Spatzen eine Erbengemeinschaft. Als ich mich durchgestrichen hatte, konstatiert er, blieb das Gedicht übrig. Auf die Frage, was ein gutes Gedicht ausmache, antwortet er: es müsse „auf unwiderstehlich sanfte Art und Weise traurig machen“.
Das Gedicht, so Ulrich Koch: es ereignet sich für die Dauer dieses einen vergänglichen, vergehenden, vergangenen Augenblicks. In fester Überzeugung oder um ehrlich zu sein, in meiner losen Hoffnung, gibt es Gedichte tatsächlich. Es sind kleine aparte Wesenheiten…
Denn irgendwann erkannte ich das Tagebuchartige eines jeden Tages: Die Form dieser seiner Wesenheiten wirkt manchmal, als setzten sie sich organisch aus den Satzpartikeln, Wahrnehmungssplittern und Epiphaniezeilen seines Notizbuches zusammen zu einem ganz anderen, ureigenen, angereicherten, manchmal auch elegischen Erscheinungsbild von Wirklichkeit. Ihm reicht der Anblick einer Pfütze, um ein Weltgefühl zu formulieren. Das Elementare erklingt bei ihm wie ein anderes Wort für die Leuchtkraft, die seine Sprachbildnisse haben. Wohin bleiben fragt er sich und uns.
Siebzehnter Juli lautet profan ein Gedichttitel in diesem neuen Band, ein schlichtes Datum als Ausgangspunkt oder Verortung für seine Art von Existenzialismus, und so beginnt dieses Gedicht:
Der Schweiß auf der Stirn der Wahrsager
ist getrocknet: Die Gegenwart ist eingetroffen.
Die Hausgeburten der Schwalben sind alle geglückt,
und an den stillen Sommerabenden
scheint das Losgelassene zum Greifen nah. …
Ulrich Koch: Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text. Gedichte. Verlag Jung und Jung, 160 Seiten. 18€
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