Das Herz am richtigen Fleck
von Patrick Findeis
Lynette – die Protagonistin aus Willy Vlautins sechstem Roman „Nacht wird es immer“ –, malocht in zwei mies bezahlten Jobs; sie hat einen behinderten Bruder, um den sie sich kümmern muss und eine Mutter, die, wenn sie nicht auf der Arbeit ist, rauchend und trinkend vor dem Fernseher sitzt. Lynette kämpft um jede Sekunde Schlaf, die sie bekommen kann, und sie spart jeden Cent, den sie verdient. Denn sie hat ein Ziel, einen Traum. Das Haus kaufen zu können, in dem sie mit Mutter und Bruder zur Miete wohnt, welches in einer sich rasend schnell gentrifizierenden Gegend Portlands liegt. Ihr Erspartes reicht dafür bei weitem nicht aus, und deswegen hängt dieser Traum auch an der Bereitschaft ihrer Mutter, einen Kredit aufzunehmen. Als diese sich plötzlich weigert, beginnt für Lynette eine verzweifelte Odyssee durch die Nacht, die sie an die dunkelsten Orte ihrer Vergangenheit führt. Seite um Seite entblättert sich ein Leben, das geprägt ist von psychischer Krankheit, Missbrauch und Armut, und gleichzeitig entsteht das Bild einer unheimlich starken jungen Frau, die jeden noch so harten Ball, den ihr das Leben zuspielt, retourniert. Jetzt denkt Leser:in vielleicht, Jesses, ist das düster, ist das eine finstere Geschichte! Doch dann kennt Leser:in Willy Vlautin schlecht und seine Kunst, so herzerwärmend menschlich von den sogenannten kleinen Leuten zu erzählen, so tief in die Seelen seiner Protagonist:innen zu blicken; und von der Solidarität, den kleinen, großen Gesten, aber auch von den tiefen Abgründen zu berichten, so dass sich Leben auftun, die vielleicht nicht vom Glück gesegnet sind, aber vom unbedingten Streben nach Glück getrieben sind.
Willy Vlautin ist 1967 in Reno, Nevada geboren, lebt heute aber in Portland. Er ist Autor und Musiker, hat sich lange als Maler und Anstreicher durchgeschlagen, bevor er mit seiner Band Richmond Fontaine und seiner Literatur erfolgreich wurde. Er weiß, wovon er spricht, wenn er in seinen Büchern von Arbeitern, Niedrig-Löhnern, Waisen und Versehrten erzählt. „Nacht wird es immer“ ist sein bisher düsterstes Buch, aber es spielt auch in einem Trump-Amerika des enthemmten Kapitalismus, der Spaltung und des Misstrauens; ein Amerika, in dem die Solidarität bröckelt, in dem sich die Armen um die paar Brotkrumen schlagen, die die Reichen von ihren festlich gedeckten Tischen wischen. Gegen Ende des Buches sagt Lynettes Mutter zu ihr, dass sie nicht viel von Geschichte wisse, nicht genug aufgepasst habe in der Schule, aber sie wisse, dass in den Geschichtsbüchern nur von denen die Rede ist, die sich nehmen, was sie wollen, und zwar möglichst viel davon, möglichst alles, ob sie es bräuchten oder nicht.
„Nacht wird es immer“ ist ein pessimistisches, ein dunkles Buch. Aber auch ein Buch, das Hoffnung macht, dass die amerikanische Gesellschaft noch nicht gänzlich der Ausbeutung und dem gnadenlosen Wettbewerb zum Opfer gefallen ist. Und, dass es Menschen gibt wie Lynette, die zwar gezwungen sind, zu kämpfen, aber nur soviel nehmen, wie sie wirklich brauchen. Menschen, die trotz ihrer Versehrtheit das Herz am richtigen Flecken haben.
Willy Vlautin: Nacht wird es immer. Roman. Aus dem Amerikanischen Englisch von Nikolaus Hansen. Berlin Verlag, Berlin/München 2021. 25 €
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