„Ein Vogel, seit langem schon tot, singt in unserem Wald“
Naturessays vom schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson
von Jürgen Reuß
Was kann man über ein Buch Schöneres sagen, als dass es die Sicht auf die Welt verändert? Genau das tun Harry Martinsons Naturminiaturen. Hat man erst ein paar der Kapitelchen über Sonne, Seen, Schlickbuchten, Waldsümpfe, Kerbel, Mohnsamen oder Erdgeruch gelesen, verändert sich unwillkürlich auch der Blick aus dem Fenster: Wem winken die Platanen in der Frühlingsbrise? Wovon tuschelt das trockene Laub, wenn es über den Asphalt raschelt? Welchem Besiedlungsplan folgt das Moos auf dem Mauersims, nachdem die Flechten den Grund bereitet haben?
Und nicht nur die Sicht ändert sich. Wenn abends die Amsel zu ihrem großen Solo ansetzt, hat man unwillkürlich Martinsons Singdrossel im Ohr, wie sie unter „tausend abendstillen Wipfeln“ nach einigen Probeläufen schließlich den auswählt, der den „tiefsten Resonanzboden bietet“. Gleichzeitig lässt die Lektüre den betäubenden, honigträgen, drückend schweren Wabenduft von Spörgel in der Nase aufsteigen, während man sich fragt, ob sein Vorkommen hier und heute auch an freigestellte Bevölkerungsgruppen zu Zeiten der Depression auf einer Sozialbrache erinnert, wie es für Martinson Ende der 1930er Jahre in Schweden der Fall war.
Es mag simpel klingen, wenn Martinson behauptet, dass ein Naturschilderer letztlich nur die alten Wahrheiten, „dass das Gras grün ist, der Kuckuck ruft und die Sonne auf dem Wasser glitzert“, auf neue Weise erzählt. Aber kaum lässt er uns dem seltsamen Traum eines Bovistes nachsinnieren, einmal Knauf an einer Felstür aus Gneis zu werden, schon entschwirren die Gedanken irgendwohin ins Jenseits von simpel. Martinson versinkt auch nie in hermetische Naturlyrik. Während er über Lerchen nachdenkt, fragt er sich, ob es noch einen Tag gibt, „an dem keine Stadt bombardiert wird“. Er sucht auch keine schwedischen Heimatidyllen, „denn die Welt besteht fast ausschließlich aus Heimatdörfern, aber ist darum kein besserer Ort“.
Und mal ehrlich, wenn man im Frühjahr aus dem Fenster schaut, sieht man statt Waldeslust doch oft eher Baugerüste. Und „ein Baufrühling ist der hässlichste aller Frühlinge“, oder nicht? Was macht der Schriftsteller dann? „Die Naturschilderung wird daher vorzugsweise zu einer Geschichte darüber, wie man Lärm aussiebt.“ Martinsons Großartigkeit erkennt man allerdings unter anderem daran, dass er diesen Wunsch zwar formuliert, aber vorzugsweise nicht umsetzt. Es sind nicht nur das Sirren und Rascheln, Glitzern und Funkeln, Dampfen und Wabern, die seine Texte flirren lassen, sondern gerade auch die mitschwingenden Störgeräusche von Zivilisation, Kriegsvorbereitungen und Fortschritt. Eins von Martinsons Rezepten für diese Art von Texten ist, dass er seine Sommer-skizzen im Winter schreibt, „ohne vorherige Notizen“. Dass in seiner pazifistisch-buddhistischen Grundhaltung immer auch ein Hauch von Depression mitschwingt, zeigt das Bild, mit dem er sein Schreiben zu fassen sucht: „Ein Vogel, seit langem schon tot, singt in unserem Wald.“
Dafür, dass Martinsons wunderbarer Ton nicht nur im Schwedischen, sondern auch im Deutschen so fantastisch funktioniert, sorgt die beeindruckende Übersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke.
Harry Martinson: Schwärmer und Schnaken. Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 222 Seiten, 22 Euro.
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