Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

wie unterschiedlich und vielfältig Literatur ist, können Sie in unserer zweiten Ausgabe des Newsletters entdecken.

Sollten Sie gedacht haben, der  Osten sei 30 Jahre nach der Wende schon auserzählt, wird Sie Thomas Kunst mit seinem Roman Zandschower Klinken überraschen. Mithu Sanyal wiederum zeigt in Ihrem Debütroman Identitti, dass auf humorvolle Weise ernsthaft über den Identitätsdiskurs erzählt werden kann. Und schließlich lernen Sie mit dem schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson einen Meister der Naturschilderung kennen.

Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre.
Ihre Buchhandlung Schwarz

S(c)how Time im Osten


Ohne ranzigen Sozialkitsch erzählt Thomas Kunst von einem Dorf  im Osten

Von Anna Katharina Hahn

Meine Begeisterung, mich mit Bengt Classen auf den Weg nach Zandschow zu machen, hält sich anfangs in Grenzen. Schon wieder ein getrennter Typ, dem nichts Besseres einfällt, als wundenleckend ins Auto zu steigen und sein privates Road Movie zu inszenieren.  Aber der Name seiner verstorbenen Hündin lockt mich weiter: „Weißäuglein“ – da schimmern die Grimmschen Märchen durch, Nasenarbeit ist angesagt, ich bleibe erst einmal auf dem Trail. Vielleicht wird’s doch noch cool. Hell, yeah! So geht es also auch – ohne geschwätzige Rückblenden, linear auserzählte Plots, festgelegte Orte. Thomas Kunst schickt mich durch Zandschow. Ich frage nicht extra nach, wie ich die -schow-Endung lesen darf: Zand-Show. Mit den auf der Insel Rügen schon länger abgebroch-enen, als zinnenförmige Kreideformationen definierten Klinken will ich auch nicht wie ein Geologe verfahren – steht der Ortsname Zandschow davor, werden sie zu Türklinken in andere Dimensionen. Kunst kann das. Thomas Kunst sowieso.

Während der Zand-Show dreht sich im Hintergrund der Plattenteller, eine bewusstseinserweiternde Playlist folgt im Abspann. Die gesamte Erzählung tönt, der DJ springt vor und zurück, legt auch gerne den gleichen Song noch einmal auf, das Gehör schärft sich mit jeder Wiederholung. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall darf ich, bis in die Wolle gefärbte Wessi-Frau, Dinge über den Osten lernen, die mich überraschen. Das ist dringend nötig, noch immer. Die Zand-Show öffnet ihre zahlreichen und raffinierten Vorhänge, einen nach dem anderen, über abge-hängten ländlichen Räumen voller Verlierer, demenzzerfressenen Familiengeschichten mit der ewigen Qual der (un)gerechten Liebesverteilung, erzählt von Serien und Abenteuerfilmen, tödlicher Langeweile, Bürokratie und Menschenverachtung. Thomas Kunst baut die Lebensgeschichten der Dorfbewohner ohne Tränendrüsen-druck. Für ihre Suche nach Auswegen findet er erstaunliche Formen, frei von ranzigem Sozialkitsch. Oft habe ich gelacht, auch respektvoll gestaunt über das Brodeln seiner Sprache, in der ihm Fügungen gelingen wie „Wildnis der Demenztrakte“, „Blicktötung“ oder „lakritzpralle Pfoten“.

Zandschow genügt dem Schriftsteller nicht als ostdeutsches Dorf. Kolonialismus und Flüchtlingselend schaffen ihren Weg in dieses Krähwinkel auf der Tonspur von Mythen, Märchen und bitterer Ironie. Ohne Zögern steige ich in das Rehtaxi, sei es gelb oder weiß, und lasse mich am goldenen Halsband, an der Leine aus Binsen, von Quelle zu Quelle führen, von Ebene zu Ebene, Allmachtsfantasie zu Allmachtsfantasie, lausche der Sprache von Tiger und Wolf, stecke im Flaschenhals, gemeinsam mit einer ganzen Schar von möglichen Welten. It’s show time!

Thomas Kunst: Zandschower Klinken. Suhrkamp, Berlin 2021. 254 Seiten, 22 Euro.

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„Wir sind Gesellschaft“


Mithu Sanyal hat einen so wichtigen wie unterhaltsamen Debütroman geschrieben

von Annette Hoffmann

Nur weil ein Diskurs mittlerweile bei den Volksparteien angekommen ist, heißt das nicht, dass ihm nicht mehr mit Humor beizukommen wäre. Die Lektüre von Mithu Sanyals Roman „Identitti“ sollte jedenfalls auch die entspannen, die glauben, Identitätspolitik hätte so gar nichts mit ihnen selbst zu tun. „Identitti“ ist der programmatische Name von Nivedita Anands Blog. Die junge Frau ist Studentin der Intercultural Studies und Postkolonialer Theorie in Düsseldorf, wo die charismatische Saraswati lehrt. „Saraswati ist Pop. So sehr Pop, dass sie ihr zweites Buch PostPopKolonialismus nannte. Und wie es sich für Stars gehört, entzünden sich an ihr immer wieder heftige Debatten, vor allem in den sozialen Medien.“ Diese Debatten sind Teil von Neviditas Selbstverständniss, schließlich bringt sie polnisch-indische Eltern mit, wie nebenbei auch Sanyal selbst, die zudem Düsseldorf gut kennt. Dort wurde sie 1971 geboren.

Und ein bisschen Lokalkolorit kann hier nicht schaden, denn trotz der weltumspannenden Relevanz von Identität, Race, Class, Gender usw. ist „Identitti“ ein Campus-Roman. Selbst dann als die Bombe platzt und sich die Diskussionen vom Seminar in Saraswatis Wohnung in Düsseldorf-Oberbilk verlagern. Denn tatsächlich wurde die Professorin als Sarah Vera Thielmann in Karlsruhe geboren und erst Hormone und die plastische Chirurgie machten sie zu Saraswati. Mit Rachel Dohzal gab es vor einigen Jahren einen ganz ähnlichen realen Fall. Nevidita schlüpft bei Saraswati unter – was auch etwas über die Kokons erzählt, in denen hier debattiert wird. Saraswati fühlt sich schuldlos, Nivedita verraten und verletzt. „Niveditas Problem war nicht, dass sie keine klar umrissene Identität hatte. Ihr Problem war, dass sie das Gefühl hatte, Identitäten seien etwas für andere Leute. Und sie hätte kein Anrecht darauf, weil sie zwischen alle Kategorien und durch alle Ritzen fiel. Sogar die meisten Theorien zu Rassismus bezogen sich nicht auf Menschen wie sie, sondern auf … eindeutigere Menschen.“

Menschen wie ihre Cousine Priti, der sie ihre Credibility ein bisschen neidet, in einer indischen Comunity in Birmigham aufgewachsen zu sein. Später wird Saraswatis Stiefbruder, der wirklich ganz authentische indische Eltern hat, dazuzustoßen. Er wurde von den Thielmanns adoptiert. Und er war es auch, der den Skandal der Presse steckte. Niveditas eigentliche Sparringpartnerin aber ist die Göttin Kali, die nonchalant eine Kette mit den Schädeln ihrer Opfer um den Hals trägt, deren Arme hat sie zu einem Rock aufgefädelt. Die blauhäutige Göttin ist für Zerstörung und Erneuerung zuständig. Bei einer Art Teufelsaustreibung wird sie ein Gedicht von Dylan Thomas rezitieren, was erst einmal keiner merkt – immerhin ein von den Engländern kolonialisierter Waliser. Appropriation und Aneignung also von höchster Warte.

Mithu Sanyal hat mit „Identitti“ einen so ernsthaften wie komischen Diskurs-Roman geschrieben. Dabei zeigt sie die Mechanismen auf, die die öffentlichen Debatten vor allem in den sozialen Medien bestimmen. So hat sie etwa Antje Schrupp, Ijoma Mangold, Jörg Scheller oder Hilal Sezgin um fiktive Kommentare gebeten, die in den Roman eingefügt sind. Sanyal erzählt nicht etwa den Fall Dolezal nach, sie adaptiert ihn und macht daraus ein Schauspiel so bunt wie das Mahabharata-Epos und so hybrid wie ein romantischer Roman. Auch wenn Sanyal umgehend das dekonstruiert, was sie als zarte Ahnung von Zugehörigkeit andeutet, diffamiert sie niemanden. Wie lebensgefährlich Rassismus ist, hat sich in den Attentaten von Hanau gezeigt, die passierten, während sie an „Identitti“ schrieb und deren Opfer sie im Roman würdigt.

Mithu M. Sanyal: Identitti. Hanser, München 2021. 432 Seiten, 22 Euro.

 

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„Ein Vogel, seit langem schon tot, singt in unserem Wald“


Naturessays vom schwedischen Nobelpreisträger Harry Martinson

von Jürgen Reuß

Was kann man über ein Buch Schöneres sagen, als dass es die Sicht auf die Welt verändert? Genau das tun Harry Martinsons Naturminiaturen. Hat man erst ein paar der Kapitelchen über Sonne, Seen, Schlickbuchten, Waldsümpfe, Kerbel, Mohnsamen oder Erdgeruch gelesen, verändert sich unwillkürlich auch der Blick aus dem Fenster: Wem winken die Platanen in der Frühlingsbrise? Wovon tuschelt das trockene Laub, wenn es über den Asphalt raschelt? Welchem Besiedlungsplan folgt das Moos auf dem Mauersims, nachdem die Flechten den Grund bereitet haben?

Und nicht nur die Sicht ändert sich. Wenn abends die Amsel zu ihrem großen Solo ansetzt, hat man unwillkürlich Martinsons Singdrossel im Ohr, wie sie unter „tausend abendstillen Wipfeln“ nach einigen Probeläufen schließlich den auswählt, der den „tiefsten Resonanzboden bietet“. Gleichzeitig lässt die Lektüre den betäubenden, honigträgen, drückend schweren Wabenduft von Spörgel in der Nase aufsteigen, während man sich fragt, ob sein Vorkommen hier und heute auch an freigestellte Bevölkerungsgruppen zu Zeiten der Depression auf einer Sozialbrache erinnert, wie es für Martinson Ende der 1930er Jahre in Schweden der Fall war.

Es mag simpel klingen, wenn Martinson behauptet, dass ein Naturschilderer letztlich nur die alten Wahrheiten, „dass das Gras grün ist, der Kuckuck ruft und die Sonne auf dem Wasser glitzert“, auf neue Weise erzählt. Aber kaum lässt er uns dem seltsamen Traum eines Bovistes nachsinnieren, einmal Knauf an einer Felstür aus Gneis zu werden, schon entschwirren die Gedanken irgendwohin ins Jenseits von simpel. Martinson versinkt auch nie in hermetische Naturlyrik. Während er über Lerchen nachdenkt, fragt er sich, ob es noch einen Tag gibt, „an dem keine Stadt bombardiert wird“. Er sucht auch keine schwedischen Heimatidyllen, „denn die Welt besteht fast ausschließlich aus Heimatdörfern, aber ist darum kein besserer Ort“.

Und mal ehrlich, wenn man im Frühjahr aus dem Fenster schaut, sieht man statt Waldeslust doch oft eher Baugerüste. Und „ein Baufrühling ist der hässlichste aller Frühlinge“, oder nicht? Was macht der Schriftsteller dann? „Die Naturschilderung wird daher vorzugsweise zu einer Geschichte darüber, wie man Lärm aussiebt.“ Martinsons Großartigkeit erkennt man allerdings unter anderem daran, dass er diesen Wunsch zwar formuliert, aber vorzugsweise nicht umsetzt. Es sind nicht nur das Sirren und Rascheln, Glitzern und Funkeln, Dampfen und Wabern, die seine Texte flirren lassen, sondern gerade auch die mitschwingenden Störgeräusche von Zivilisation, Kriegsvorbereitungen und Fortschritt. Eins von Martinsons Rezepten für diese Art von Texten ist, dass er seine Sommer-skizzen im Winter schreibt, „ohne vorherige Notizen“. Dass in seiner pazifistisch-buddhistischen Grundhaltung immer auch ein Hauch von Depression mitschwingt, zeigt das Bild, mit dem er sein Schreiben zu fassen sucht: „Ein Vogel, seit langem schon tot, singt in unserem Wald.“

Dafür, dass Martinsons wunderbarer Ton nicht nur im Schwedischen, sondern auch im Deutschen so fantastisch funktioniert, sorgt die beeindruckende Übersetzung von Klaus-Jürgen Liedtke.

Harry Martinson: Schwärmer und Schnaken. Aus dem Schwedischen von Klaus-Jürgen Liedtke. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 222 Seiten, 22 Euro.

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