Stephen King und Philip K. Dick im deutschen Provinzroman
von Jürgen Reuß
Mit dem eigenen Körper fremdeln, sich in der eigenen Haut nicht wohl fühlen, den Bezug zu flüssigen Bewegungen und der adäquaten Beherrschung der Gliedmaßen verlieren, sich im Grunde wie ein Alien in einer seltsamen Umgebung fühlen – „Das wächst sich raus“, glaubt die Erwachsenenwelt und diagnostiziert Pubertät. Was aber, wenn die nur nichts mehr mitkriegen? Erinnert Timo nicht wirklich eher an die niedersächsische Vegetation als an einen künftigen Berufseinsteiger? Richard hat für sich sogar experimentell belegt, dass er eine erlahmende Wirkung auf seine Mitmenschen hat. Und warum sollte Valerie nicht mal 30 Tage am Stück schlafen, wenn sie mit der in ihrem Zuhause konservierten kasachischen Innenwelt als in Deutschland Geborene noch weniger anfangen kann, als ihre Familie mit der neuen Heimat zwei S-Bahnstationen vor Hannover? Ist nicht überhaupt die ganze Realität leicht verschoben?
Willkommen in Sven Pfizenmaiers Welt. Mit seinem Debütroman „Draußen feiern die Leute“ ist das Erbe von Stephen King und Philip K. Dick, aber auch des Hollywood-Mainstream-Horrors im deutschen Provinzroman angekommen. Wie bei Halloween nehmen die Verunsicherungen beim Aufbruch aus der Familie zu neuen Liebesobjekten greifbar Gestalt an. Von oben zoomt die literarische Kamera auf den Kreisverkehr runter. Da unten ist Flora verschwunden, aber auch anderswo verschwinden die Leute: Farina K., Shahid A. oder Michael B. Hauswände scheinen ein Eigenleben zu entwickeln, in manchen Haushalten regiert eine untote 157-Jährige. Aber dass keine Missverständnisse aufkommen: der Horror bleibt subtil, meist auch eher komisch wie in diesen Scream-Parodien. Das meiste ist genau beobachtete Provinzrealität. Und wie eine reale gesellschaftliche Stimmung ins Spukhafte kippen und Verschwörungsphantasien wie Pilze aus dem Boden schießen können, haben wir in den Pandemiejahren ja erlebt. Das Ganze ist garniert mit episch-parodistischen Charakteren, die überwiegend von ihrer Grundeigenschaft definiert werden, und einem Geheimnis, dem sich die Protagonisten auf die Spur begeben, ein bisschen wie in einem frühen Kaurismäki-Film, in dem sich 18 Männer, von denen 17 Frank heißen, in Helsinki auf einen Odyssee in den Nachbarstadtteil begeben. Cooler Erstling, einfach mal eintauchen.
Oder am Samstag, den 2. Juli 2022 um 12 Uhr in Laube 4 oder um 18 Uhr in Laube 2 in den Schrebergärten in der Wonnhalde beim Lesefest im Grünen „Aller Anfang ist Yeah“ mal live reinhören. Siehe auch den Veranstaltungshinweis. Programm gibt es hier.
Sven Pfizenmaier: Draußen feiern die Leute. Kein & Aber, Zürich 2022. 24 €
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