Liebes Publikum, liebe Lesende,

kommendes Wochenende, von Freitag, 1. Juli bis Sonntag, 3. Juli veranstaltet das Literaturhaus Freiburg ein Fest des Anfangs: Aller Anfang ist Yeah.

Ein Sommerwochenende mit 20 literarischen Debüts und der Frage: Wie beginnt das Schreiben? 10 druckfrische Bücher treffen auf 10 Erstlinge aus den letzten 25 Jahren. Wir möchten Ihnen die Debüts von Sven Pfizenmaier: Draußen feiern die Leute und Laura Cwiertnia:  Auf der Straße heißen wir anders vorstellen, und Sie auf das Wochenende mit Begegnungen, Lesungen und Gesprächen im Grünen – am Alten Wiehrebahnhof, in den Lauben der Wonnhalde und den himmlischen Gärten des Klosters St. Lioba, einstimmen.

Ihre Buchhandlung Schwarz

Stephen King und Philip K. Dick im deutschen Provinzroman

von Jürgen Reuß

Mit dem eigenen Körper fremdeln, sich in der eigenen Haut nicht wohl fühlen, den Bezug zu flüssigen Bewegungen und der adäquaten Beherrschung der Gliedmaßen verlieren, sich im Grunde wie ein Alien in einer seltsamen Umgebung fühlen – „Das wächst sich raus“, glaubt die Erwachsenenwelt und diagnostiziert Pubertät. Was aber, wenn die nur nichts mehr mitkriegen? Erinnert Timo nicht wirklich eher an die niedersächsische Vegetation als an einen künftigen Berufseinsteiger? Richard hat für sich sogar experimentell belegt, dass er eine erlahmende Wirkung auf seine Mitmenschen hat. Und warum sollte Valerie nicht mal 30 Tage am Stück schlafen, wenn sie mit der in ihrem Zuhause konservierten kasachischen Innenwelt als in Deutschland Geborene noch weniger anfangen kann, als ihre Familie mit der neuen Heimat zwei S-Bahnstationen vor Hannover? Ist nicht überhaupt die ganze Realität leicht verschoben?

Willkommen in Sven Pfizenmaiers Welt. Mit seinem Debütroman „Draußen feiern die Leute“ ist das Erbe von Stephen King und Philip K. Dick, aber auch des Hollywood-Mainstream-Horrors im deutschen Provinzroman angekommen. Wie bei Halloween nehmen die Verunsicherungen beim Aufbruch aus der Familie zu neuen Liebesobjekten greifbar Gestalt an. Von oben zoomt die literarische Kamera auf den Kreisverkehr runter. Da unten ist Flora verschwunden, aber auch anderswo verschwinden die Leute: Farina K., Shahid A. oder Michael B. Hauswände scheinen ein Eigenleben zu entwickeln, in manchen Haushalten regiert eine untote 157-Jährige. Aber dass keine Missverständnisse aufkommen: der Horror bleibt subtil, meist auch eher komisch wie in diesen Scream-Parodien. Das meiste ist genau beobachtete Provinzrealität. Und wie eine reale gesellschaftliche Stimmung ins Spukhafte kippen und Verschwörungsphantasien wie Pilze aus dem Boden schießen können, haben wir in den Pandemiejahren ja erlebt. Das Ganze ist garniert mit episch-parodistischen Charakteren, die überwiegend von ihrer Grundeigenschaft definiert werden, und einem Geheimnis, dem sich die Protagonisten auf die Spur begeben, ein bisschen wie in einem frühen Kaurismäki-Film, in dem sich 18 Männer, von denen 17 Frank heißen, in Helsinki auf einen Odyssee in den Nachbarstadtteil begeben. Cooler Erstling, einfach mal eintauchen.

Oder am Samstag, den 2. Juli 2022 um 12 Uhr in Laube 4 oder um 18 Uhr in Laube 2 in den Schrebergärten in der Wonnhalde beim Lesefest im Grünen „Aller Anfang ist Yeah“ mal live reinhören. Siehe auch den Veranstaltungshinweis. Programm gibt es hier.

Sven Pfizenmaier: Draußen feiern die Leute. Kein & Aber, Zürich 2022. 24 €

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Wenn ein Buchstabe den Unterschied macht

von Annette Hoffmann

Maryam hatte den Namen ihres Sohnes Avedis mit Bedacht gewählt. Vom Spitznamen Avi war es nur ein Buchstabe zu Ali, wie seine Mutter ihn rief, wenn er auf den Straßen Istanbuls spielte. Sie selbst hieß für die Türken Meryem, ihr Mann Hagop Hüsein. Laura Cwiertnias Debütroman „Auf der Straße heißen wir anders“ beruht auf der Geschichte ihrer deutsch-armenischen Familie. Wie so oft beginnt alles mit einer Beerdigung. Karlas Großmutter ist gestorben, zu den wenigen Habseligkeiten der alten Frau gehört ein goldener Armreif, der zurück soll zu einer gewissen Lilit Kuyumcyan, Yerevan, Armenien. Niemand scheint diese Frau zu kennen. Karla, wie die 1987 geborene Autorin in Bremen-Nord aufgewachsen, reist mit ihrem Vater nach Jerewan. Auf der Suche nach der Frau, aber auch nach etwas wie ihren Wurzeln. Dabei dreht Cwiertnia die Gegenwart und die Verfolgung der Familie im Genozid 1915/16 und während des Istanbul-Pogroms 1955 zu einem Strang. Je weiter der Roman fortschreitet, desto näher kommen wir der Katastrophe, in der die Familie beinahe ausgelöscht worden wäre und über die in den folgenden Generationen geschwiegen wird. Nur zuhause redet sich die Familie mit den armenischen Namen an, auf der Straße Istanbuls sind sie Türken, in Deutschland wiederum unterscheidet kaum jemand zwischen Türken und Armeniern. Cwiertnia, die als Journalistin arbeitet, hat umfangreich für diesen Roman recherchiert und breitet ihr Wissen für ihre Leserschaft aus. Familienromane werden heute anders erzählt, mitunter als Roadmovie zu einer fremd-vertrauten Herkunft.

Am Samstag, den 2. Juli 2022 um 16 Uhr in Laube 1 oder um 18 Uhr in Laube 4 in den Schrebergärten in der Wonnhalde beim Lesefest im Grünen „Aller Anfang ist Yeah“ ist Laura Cwiertnia zu Gast. Siehe auch den Veranstaltungshinweis. Programm gibt es hier.

Laura Cwiertnia: Auf der Straße heißen wir anders. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 22 €

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