Liebe Freundinnen und Freunde der Buchhandlung Schwarz,

der Angriffskrieg auf die Ukraine löst derzeit in mir auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit meines beruflichen Alltags aus. Wir haben den dringenden Wunsch zu helfen, können spenden, Care-Pakete packen, für den Frieden demonstrieren – und doch bleibt das Gefühl der Hilflosigkeit. Vielleicht sind die Bücher von Patrick Leigh Femor, Lydia Sandgren und Jean-Philippe Toussaint, die wir Ihnen im Newsletter vorstellen möchten, ein Angebot, sich mit Literatur von den Wirrnissen des aktuellen Zeitgeschehens etwas abzulenken.
Es grüßt Sie herzlich aus der Buchhandlung

Ihr Michael Schwarz und Kolleg*innen

Eine Zeit der Stille

 

Aufgehobene Zeit

von Christoph Schröder

Eines Tages spricht Patrick Leigh Fermor einen Mönch an und bittet ihn, in kurzen Worten sein Leben zu schildern. Der Mann überlegt kurz und fragt dann: „Waren sie schon einmal verliebt?“ Fermor bejaht, und der Mönch lächelt und antwortet ihm: „Eh bien, c’est exactement pareil“ – das sei exakt das gleiche Gefühl.

Es gibt mindestens zwei Dinge, mit denen man gegenwärtig so wenig wie möglich zu tun haben möchte: Gesellschaftliche Isolation und die Katholische Kirche. Nach der Lektüre dieses Buchs stellt sich aber trotzdem eine leise Sehnsucht nach ersterem und ein mildes Verständnis für letztere ein. Patrick Leigh Fermor war Abenteurer, viel bewunderter Reiseschriftsteller und Freigeist. Geboren 1915 in London, wurde er im Alter von 18 Jahren der Schule verwiesen und brach daraufhin zu einer Wanderung nach Konstantinopel auf. Seine im Original 1977 und 1986 erschienenen Bücher, die von jener Reise berichten, gelten als seine Hauptwerke. Im Zweiten Weltkrieg lebte Patrick Leigh Fermor als Agent und Verbindungsoffizier auf Kreta und half dort, im Untergrund den Widerstand gegen die deutschen Besatzer zu organisieren. Fermor starb im Jahr 2011.

Der Dörlemann Verlag legt Patrick Leigh Fermors Werk seit rund 15 Jahren in einer Gesamtausgabe neu auf. In der geschmeidigen und eleganten Übersetzung von Dirk van Gunsteren, der auch Autoren wie Thomas Pynchon und Harold Brodkey ins Deutsche übertragen hat, ist nun ein schmales frühes Buch Fermors in einer schönen, in Leinen gebundenen Ausgabe erschienen: „Eine Zeit der Stille“ berichtet hauptsächlich vom Aufenthalt in zwei französischen Klöstern, die der Autor in den späten 1950er-Jahren absolviert hat. Die Motive dafür, dass ein in jeder Hinsicht unabhängiger Mensch wie Fermor sich in die ritualisierte Welt des Klosters begab, waren weniger spiritueller als praktischer Art: Nach mehreren ausgedehnten Reisen war Fermor auf der Suche nach einer günstigen und abgeschiedenen Unterkunft, in der er in aller Ruhe schreiben konnte. Ein Freund in Paris erzählte ihm von St. Wandrille, einem der schönsten Benediktinerkloster Frankreichs, etwa 30 Kilometer westlich von Rouen in der Normandie gelegen. Der pragmatischer Schriftsteller klopfte dort an, ohne Anmeldung und ausgerechnet auch noch an einem Sonntag – und fand sofort Aufnahme.

Mit der geistigen Wellnesserwartung gestresster Zivilisationsmenschen in der Gegenwart, die einen Klosteraufenthalt als Kurzreinigungsgang ihrer Selbstüberforderung verstehen, hat Fermors Aufenthalt nichts zu tun. Fermor ist erwartungsfrei, offen, durchlässig und gerät schnell in einen Zustand zwischen Verwirrung, Faszination und Bewunderung. Anschaulich und vorurteilsfrei wechselt seine Erzählung zwischen historischen Exkursen, Beschreibungen des Klosteralltags und Selbstreflexion. Das Kloster bleibt, wie es immer war. Aber das beobachtende Subjekt verändert sich. Der anfängliche Zustand des Leidens unter dem, „was Pascal als Wurzel allen menschlichen Übels bezeichnet hat“, der Tatsache nämlich, dass der Mensch es nicht aushalte, still in seinem Zimmer zu sitzen, wandelt sich. Oder darf man sagen: Er transzendiert sich?

„Eine Zeit der Stille“ ist, zumindest im ersten Teil, der den Aufenthalt bei den Benediktinern beschreibt, ein Entwicklungsroman en miniature: Das Gefühl des bedrohlichen Eingeschlossenseins weicht. Der Blick auf ein freiwilliges Leben in vermeintlicher Isolation dreht sich um. Die Abwesenheit materieller Zwänge, die Tiefe der Gespräche, die Sanftheit, mit der die Gemeinschaft der Mönche sich begegnet – all das führt zu einer grundsätzlichen Einsicht: Nicht die auf die Ewigkeit zustrebenden Mönche, sondern er selbst, der auf die Ereignisse der Außenwelt fokussierte Schriftsteller, ist der wahre Eskapist. Wie nebenbei scheinen in „Eine Zeit der Stille“ die Würde und der Stolz einer Weltreligion auf.

Die Zeit ist aufgehoben; die Tage, die Wochen vergehen, bis es keinen Unterschied mehr macht, und exakt das ist der Moment, in dem Fermor aufbricht zu seinem nächsten Ziel, in eine anderen Parallelwelt – La Grande Trappe ist der Stammsitz der Zisterzienser von der strengen Observanz, vulgo : Trappisten.

Hier herrscht strengstes Schweigegebot; manch einer der Ordensbrüder streut sich Dornen in die Schuhe, um mit seinem eigenen Leid die Last der gesamten Menschheit zu lindern. Ein autoritäres Gefüge, dem Fermor möglicherweise mit einem Funken Sympathie, ganz sicher aber mit Demut entgegentritt. Die hier angestrebte Seligkeit liegt in einer anderen Welt. Am Ende räumt Patrick Leigh Fermor selbst ein, das ihm das geeignete Instrumentarium, das angemessene Temperament fehle, um diesem Kosmos gerecht werden zu können. Dafür aber verfügt er über Sprache und Taktgefühl. Daraus entsteht bemerkenswerte Literatur. In England ist Patrick Leigh Fermor bis heute ein verehrter Autor. „Eine Zeit der Stille“ beweist: zurecht.

Patrick Leigh Fermor: Eine Zeit der Stille. Zu Gast in Klöstern. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Dörlemann Verlag, 144 Seiten, 18 Euro

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Gesammelte Werke

 

Eine Hommage an die Kunst und das Leben

von Isabelle Abt

„Wenn du liest, bekommst du auch Zugang zu anderen Welten als deiner eigenen. Du kannst versuchsweise eine ehebrecherische russische Aristokratin sein oder ein versoffener Briefträger, der zu Prostituierten geht. Du kannst einem ausgeflippten Roadtrip quer durch die USA folgen. Du kannst alles Mögliche sein.“, so beschreibt es Martin Berg, ein Verleger am Rande einer Midlife-Crisis aus Göteborg und Protagonist in Lydia Sandgrens Debütroman „Gesammelte Werke“, in einem Interview zu seinem Leben und Werk. Die beinahe beiläufigen Antworten Bergs auf die Interviewfragen, die den gesamten Roman begleiten und hier und da in die Erzählung eingestreut werden, entlarven sich schon bald als richtungsweisend und bilden die Konturen eines Lebens ab: ein Leben mit einer Jugend in Göteborg und den letzten Jahren auf dem Gymnasium, in denen Martin seinen besten Freund Gustav Becker kennenlernt und der Wunsch in ihm wächst, ein Schriftsteller, einer von den „ganz Großen“ zu werden. Zwei Freunde, die mit dem Studium anfangen, Gustav an der Kunsthochschule und Martin in der Philosophie, wie sie zusammen mit ihrem Freund Per ein Jahr in Paris verbringen, durch die Cafés von de Beauvoir und Sartre ziehen und sich zwischen den Touristenströmen dem Flair der Künstlerstadt hingeben. Wie sie, immer eine Flasche Rotwein zur Hand, philosophische Gespräche über die Kunst und das Leben in ihren WG-Küchen führen, wie sie sich die Nächte um die Ohren schlagen, ihre Liebe und künstlerische Muse Cecilia kennenlernen, wie Gustav mit ihren Portraits ein berühmter Maler wird und Martin mit Per einen kleinen Verlag gründet. Und wie Martins große Liebe Cecilia ihn zwei Kinder und etliche Jahre später eines Tages plötzlich verlässt, ohne eine Spur zu hinterlassen, um nach mehr als zehn Jahren vermeintlich als Figur in einem deutschen Roman aufzutauchen, zu dem Martins Tochter ein Gutachten für den Verlag schreiben soll.

Die Figuren im Hier und Jetzt kreisen dabei allesamt um die verschwundene Cecilia, die Geliebte, Muse, Mutter und Freundin war und nur durch die Erinnerung und als Motiv Gustav Beckers Portraitzeichnungen, die als Plakate in ganz Göteborg hängen, Gestalt erhält. Zentral ist dabei immer die Frage, wo die Grenzen zwischen Kunst und Realität verlaufen, wie uns Literatur durch unser Leben begleitet und welche Formen das Leben nach einem solchen Einschlag annehmen kann.

Lydia Sandgrens Debüt lädt die Leser*innen ein, durch das alles Mögliche ein Verleger in Göteborg zu sein und noch einmal seine Jugend und Studienzeit mitzuerleben. Die langen Nächte, die zähen Kater, die großen Träume und das Eingeständnis, dass auch diese in Anbetracht, wie das Leben so spielt, wandelbar sind. Ohne Angst vor Ausschweifungen und mit Mut zur Länge lässt sich Lydia Sandgrens Roman Zeit: Einerseits in der Entstehungsphase, denn die junge Autorin schrieb über zehn Jahre an ihrem Debüt; andererseits auch in seiner Ausführung. Er beschreibt genau, beobachtet, fängt Stimmungen, Momente und ganze Lebensabschnitte ein und führt durch ein Europa der 80er Jahre bis heute, um so das Leben Martin Bergs zu schreiben, seine „Gesammelten Werke“.

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke. Aus dem Schwedischen übersetzt von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig. Mare Verlag. 874 Seiten, 28€

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Balancierteller

 

Epiphanien des Alltags

von Christoph Schröder

Im Zug, auf der Rückfahrt von einer Sitzung, sitzt Jean Detrez erschöpft und gedankenverloren in seinem Sitz zurückgelehnt und scrollt durch die Fotografien, die sich auf seinem Mobiltelefon befinden. Als er auf das Foto einer jungen, halbnackten Frau stößt, aufgenommen ganz offensichtlich in einem Hotelzimmer, gerät Detrez in einen Zustand milder Verwirrung: Er weiß, wo das Foto entstanden ist und auch wann; er weiß, wer die Frau ist, nur: „Ich erinnerte mich nicht mehr an die genauen Umstände.“ In Gedanken beginnt er nun, jene Sommertage zu rekonstruieren, in denen er die Frau auf dem Foto kennengelernt hat – und mit dieser soeben am Rande der Plausibilität wandelnden Eröffnung, mit einer Hauptfigur, die sich in einem Zustand zwischen Müdigkeit und Reflexionsbereitschaft befindet, setzt der Belgier Jean-Philippe Toussaint uns gleich in der Eröffnungsszene seines neuen Romans mitten hinein in sein unverwechselbares erzählerisches Universum.

Die Toussaint-Welt ist eine Welt, die vermeintlich scharf realistisch gezeichnet ist, deren unheimliches und poetisches Potential aber haarscharf neben der Realität liegt; in den Ereignissen, Gedanken und Handlungen, die nicht auflösbar sind und in denen sich vor allem die Figuren selbst auch rätselhaft bleiben dürfen. Und so postmodern artifiziell und elegant hergestellt Toussaints Szenarien, vor allem in seinen frühen Romanen, auch stets erscheinen mögen, so wenig ironisch dürfte der Titel seines neuen Romans gemeint sein: „Die Gefühle“ ist tatsächlich ein hochemotionales Buch, nur ist Toussaint eben einer jener Schriftsteller, die Gefühl nicht mit Sentiment verwechseln.

Das erste lange Kapitel ist die durch die Betrachtung des Handy-Fotos ausgelöste Erinnerung an eine Tagung in einem noblen Landsitz mit Namen „Hartwell House“ im Jahr 2016, auf der es um die Folgen des zehn Tage zuvor durchgeführten Brexit-Referendums gehen soll. Am Rande ist davon auch die Rede, vor allem aber bahnt sich zwischen Detrez, der zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, und einer Kollegin an der Hotelbar eine Liaison an. Die endet abrupt, weil die Kollegin sich verabschiedet und geht – kurz darauf sitzt eine andere Frau an ihrer Stelle, und das Gespräch mit der einen geht genau dort weiter, wo das mit der anderen geendet hat. Erklärt wird das nicht, auch im Nachhinein nicht; was bleibt, ist die verschwommene Fotografie auf dem Telefon und eine Atmosphäre von pulsierender Unruhe, die unter dem Text liegt.

„Die Gefühle“ ist kein handlungsloser Roman, im Gegenteil; er besteht aus drei langen Erzählungen, die auch als in sich abgeschlossene Einheiten gelesen werden können, doch Jean-Philippe Toussaint ist kein plotgetriebener Erzähler; ihm geht es um das augenblickhafte Aufblitzen von Schönheit und Erkenntnis, um Epiphanien des Alltags und auch um die Unheimlichkeit, die in profanen Verrichtungen und Beziehungen lauern kann. Das zweite Kapitel eröffnet mit dem Satz: „Mein Vater starb im Dezember desselben Jahres 2016.“ Der Vater war ebenfalls ein hochrangiger EU-Beamter, doch der eigentliche Protagonist des zweiten Langkapitels ist ein Gebäude, das Berlaymont-Gebäude in Brüssel, Sitz der Europäischen Kommission. Jeans Bruder Pierre, von Beruf Architekt, erhält den Auftrag, die aufwendige Sanierung des Gebäudes durchzuführen, und die Erinnerung an einen gemeinsamen Baustellenbesuch des riesigen Komplexes gemeinsam mit dem Bruder und dem Vater gerät Detrez umgehend wieder zu einer mysteriös gefärbten Beschreibung eines labyrinthischen, von unterirdischen Geheimgängen durchzogenen, in sich geschlossenen Universums, das ganz am Ende des Romans noch einmal eine wichtige Rolle spielen wird.

Es gebe, so sagt Jean Detrez es zu Beginn des dritten Kapitels angelehnt an Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“, entscheidende Augenblicke im Leben, die nie in Vergessenheit geraten. Ob Jean-Philippe Toussaint auf diese Augenblicke hin- oder kalkuliert genau an ihnen vorbeierzählt, bleibt stets in der Schwebe. So wie er in „Die Gefühle“ auf Umwegen, in höchster Eleganz, aber ohne jedes Pathos (auch nicht mit dem Pathos der Lakonie) von Tod, Verlust, Angst, Begehren und Liebe erzählt, so vermag das kaum ein anderer Schriftsteller derzeit.

Jean-Philippe Toussaint: Die Gefühle. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, 242 Seiten, 22 Euro

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