Eine Zeit der Stille
Aufgehobene Zeit
von Christoph Schröder
Eines Tages spricht Patrick Leigh Fermor einen Mönch an und bittet ihn, in kurzen Worten sein Leben zu schildern. Der Mann überlegt kurz und fragt dann: „Waren sie schon einmal verliebt?“ Fermor bejaht, und der Mönch lächelt und antwortet ihm: „Eh bien, c’est exactement pareil“ – das sei exakt das gleiche Gefühl.
Es gibt mindestens zwei Dinge, mit denen man gegenwärtig so wenig wie möglich zu tun haben möchte: Gesellschaftliche Isolation und die Katholische Kirche. Nach der Lektüre dieses Buchs stellt sich aber trotzdem eine leise Sehnsucht nach ersterem und ein mildes Verständnis für letztere ein. Patrick Leigh Fermor war Abenteurer, viel bewunderter Reiseschriftsteller und Freigeist. Geboren 1915 in London, wurde er im Alter von 18 Jahren der Schule verwiesen und brach daraufhin zu einer Wanderung nach Konstantinopel auf. Seine im Original 1977 und 1986 erschienenen Bücher, die von jener Reise berichten, gelten als seine Hauptwerke. Im Zweiten Weltkrieg lebte Patrick Leigh Fermor als Agent und Verbindungsoffizier auf Kreta und half dort, im Untergrund den Widerstand gegen die deutschen Besatzer zu organisieren. Fermor starb im Jahr 2011.
Der Dörlemann Verlag legt Patrick Leigh Fermors Werk seit rund 15 Jahren in einer Gesamtausgabe neu auf. In der geschmeidigen und eleganten Übersetzung von Dirk van Gunsteren, der auch Autoren wie Thomas Pynchon und Harold Brodkey ins Deutsche übertragen hat, ist nun ein schmales frühes Buch Fermors in einer schönen, in Leinen gebundenen Ausgabe erschienen: „Eine Zeit der Stille“ berichtet hauptsächlich vom Aufenthalt in zwei französischen Klöstern, die der Autor in den späten 1950er-Jahren absolviert hat. Die Motive dafür, dass ein in jeder Hinsicht unabhängiger Mensch wie Fermor sich in die ritualisierte Welt des Klosters begab, waren weniger spiritueller als praktischer Art: Nach mehreren ausgedehnten Reisen war Fermor auf der Suche nach einer günstigen und abgeschiedenen Unterkunft, in der er in aller Ruhe schreiben konnte. Ein Freund in Paris erzählte ihm von St. Wandrille, einem der schönsten Benediktinerkloster Frankreichs, etwa 30 Kilometer westlich von Rouen in der Normandie gelegen. Der pragmatischer Schriftsteller klopfte dort an, ohne Anmeldung und ausgerechnet auch noch an einem Sonntag – und fand sofort Aufnahme.
Mit der geistigen Wellnesserwartung gestresster Zivilisationsmenschen in der Gegenwart, die einen Klosteraufenthalt als Kurzreinigungsgang ihrer Selbstüberforderung verstehen, hat Fermors Aufenthalt nichts zu tun. Fermor ist erwartungsfrei, offen, durchlässig und gerät schnell in einen Zustand zwischen Verwirrung, Faszination und Bewunderung. Anschaulich und vorurteilsfrei wechselt seine Erzählung zwischen historischen Exkursen, Beschreibungen des Klosteralltags und Selbstreflexion. Das Kloster bleibt, wie es immer war. Aber das beobachtende Subjekt verändert sich. Der anfängliche Zustand des Leidens unter dem, „was Pascal als Wurzel allen menschlichen Übels bezeichnet hat“, der Tatsache nämlich, dass der Mensch es nicht aushalte, still in seinem Zimmer zu sitzen, wandelt sich. Oder darf man sagen: Er transzendiert sich?
„Eine Zeit der Stille“ ist, zumindest im ersten Teil, der den Aufenthalt bei den Benediktinern beschreibt, ein Entwicklungsroman en miniature: Das Gefühl des bedrohlichen Eingeschlossenseins weicht. Der Blick auf ein freiwilliges Leben in vermeintlicher Isolation dreht sich um. Die Abwesenheit materieller Zwänge, die Tiefe der Gespräche, die Sanftheit, mit der die Gemeinschaft der Mönche sich begegnet – all das führt zu einer grundsätzlichen Einsicht: Nicht die auf die Ewigkeit zustrebenden Mönche, sondern er selbst, der auf die Ereignisse der Außenwelt fokussierte Schriftsteller, ist der wahre Eskapist. Wie nebenbei scheinen in „Eine Zeit der Stille“ die Würde und der Stolz einer Weltreligion auf.
Die Zeit ist aufgehoben; die Tage, die Wochen vergehen, bis es keinen Unterschied mehr macht, und exakt das ist der Moment, in dem Fermor aufbricht zu seinem nächsten Ziel, in eine anderen Parallelwelt – La Grande Trappe ist der Stammsitz der Zisterzienser von der strengen Observanz, vulgo : Trappisten.
Hier herrscht strengstes Schweigegebot; manch einer der Ordensbrüder streut sich Dornen in die Schuhe, um mit seinem eigenen Leid die Last der gesamten Menschheit zu lindern. Ein autoritäres Gefüge, dem Fermor möglicherweise mit einem Funken Sympathie, ganz sicher aber mit Demut entgegentritt. Die hier angestrebte Seligkeit liegt in einer anderen Welt. Am Ende räumt Patrick Leigh Fermor selbst ein, das ihm das geeignete Instrumentarium, das angemessene Temperament fehle, um diesem Kosmos gerecht werden zu können. Dafür aber verfügt er über Sprache und Taktgefühl. Daraus entsteht bemerkenswerte Literatur. In England ist Patrick Leigh Fermor bis heute ein verehrter Autor. „Eine Zeit der Stille“ beweist: zurecht.
Patrick Leigh Fermor: Eine Zeit der Stille. Zu Gast in Klöstern. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Dörlemann Verlag, 144 Seiten, 18 Euro
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