Bröckelndes Imperium
von Christoph Schröder
Die Zukunftsmusik, die Katerina Poladjans neuem Roman ihren Titel gegeben hat, ist zu Beginn ein Trauermarsch. Janka hört ihn am Ende ihrer Nachtschicht in der Fabrik, als der Vorarbeiter mit dem Transistorradio in der erhobenen Hand vor die Belegschaft tritt. Maria Nikolajewna, Jankas Mutter, hört Chopins Klavierstück zur gleichen Zeit beim Morgentee mit Matwej Alexandrowitsch in der Küche der Kommunalka, in der sie lebt.
„Zukunftsmusik“ spielt an einem einzigen Tag, am 11. März 1985. Es ist der Tag nach dem Tod des sowjetischen Staatsoberhaupts Konstantin Tschernenko, der nach nur dreizehnmonatiger Amtszeit starb. Und es ist, das wird nur in einem Nebensatz, eingeleitet mit einem „übrigens“, erwähnt, ohne dass der Name fällt, der Tag, an dem Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wurde. Es ist der Tag, an dem der Zusammenbruch der Sowjetunion seinen Anfang nimmt, und auch wenn Katerina Poladjan angenehmerweise eine Autorin ist, die nicht mit Thesen, sondern mit subtilen Andeutungen arbeitet, so ist die Atmosphäre eines untergründig zu spürenden Auseinanderbröselns vorherrschend in „Zukunftsmusik“. Es manifestiert sich auf unterschiedlichen Ebenen und Gefühlslagen, in feinen Nuancierungen, oft getragen von einem melancholischen Humor und einem Sinn für das Skurrile.
Die Kommunalka, die der Hauptschauplatz von Poladjans Roman ist, liegt an einem unbestimmten Ort, in einer unbestimmten Stadt in der Peripherie der Peripherie, „tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau“. Mit geschärftem Sinn für die Absurditäten dieser von Staatswegen zusammengewürfelten Wohngemeinschaft in einer einstmals repräsentativen Gründerzeit-Prachtwohnung werden die hier herrschenden Regeln vorgeführt: Jede der sechs Mietparteien hat nicht nur ihren eigenen Herd in der riesigen Küche und ihren eigenen Küchentisch, der eine auf den Zentimeter vorgeschriebene Länge haben muss – nein, auch bei den Klobrillen ist man eigen: Die hängen an der Wand des Aborts, sorgfältig aufgereiht, und wehe, einer verwechselt die guten Stücke, falls er es mal eilig hat.
„Zukunftsmusik“ ist angesichts seiner Kürze ein erstaunlich detail- und einfallsreiches Buch, das noch dazu in der russischen Literaturgeschichte verankert ist. Wie all die schweren Begriffe – Schicksal, Liebe, Sehnsucht – werden auch die literarischen Referenzen, beispielsweise an Turgenjew, Cechov und Dostojewski, mit einem Augenzwinkern eingeführt, weil Poladjan sich des Klischees von der tiefen russischen Seele stets bewusst ist. Zugleich aber wird das Ernste auch tatsächlich ernstgenommen, und das ist eine große Qualität: So freundlich Katerina Poladjan, die in Moskau geboren wurde, aber schon seit vielen Jahren in Berlin lebt, ihre Figuren auch verbal umschmeichelt, so offenkundig wird, dass die Leser:innen zu Zeugen einer Zeitenwende werden. Ein Imperium bröckelt. Museen sind ebenso nutzlos geworden wie Forschungseinrichtungen. Es bedarf keiner zwanghaften Gegenwartsbezüge, um zu erkennen, dass in diesem Fall alles mit allem zu tun hat und Europa die Konsequenzen dieses schleichend einsetzenden Zerfallsprozesses im Februar 2022 vor Augen geführt bekommt.
Katerina Poladjan. Zukunftsmusik. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 22 €
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